Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 1. Oktober 2024 (1 BvR 1160/19) Teile des Bundeskriminalamtgesetzes (BKAG) für verfassungswidrig erklärt – darunter eine Befugnis zur Speicherung von Daten im Informationsverbund.
Polizeiliche Informationssysteme haben eine große praktische Bedeutung, aber bergen auch erhebliche Risiken für die dort gespeicherten Datensubjekte. Die rechtlichen Anforderungen an diese Systeme und die Speicherung von Daten darin sind noch nicht sonderlich ausgeprägt. Die BKAG II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts trägt dazu bei, die Anforderungen an Prognosen für die Datenspeicherung in Erinnerung zu rufen und zu schärfen.
Schlummernde Daten
In den Datenbeständen der deutschen Polizeien schlummern Informationen über Millionen von Bürgern. Die meisten der Betroffenen wissen davon entweder nichts oder interessieren sich wenig für diesen Umstand. Die Speicherungen haben auch nur in seltenen Fällen spürbare Konsequenzen für sie. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn sie etwa im Vorfeld eines Fußballspiels als Gefährder angesprochen, bei einer Verkehrskontrolle besonders gründlich untersucht oder einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden, bei der sie durchfallen.
Wollen sich die Betroffenen in derartigen Fällen gegen die Speicherung und Verwendung ihrer Daten wehren, stoßen sie auf zahlreiche Hindernisse. Das föderale Dickicht aus tausenden von Dateien und etlichen Informationssystemen ist schwer zu durchschauen. Meine eigene Untersuchung der kriminalbehördlichen Informationsordnung hat ergeben, dass selbst polizeiliche Expertinnen nicht das gesamte Ausmaß der polizeilichen Dateilandschaft kennen. Während es schon faktisch schwierig ist, einzelne Speicherungen und ihre Gründe nachzuvollziehen, kommen rechtliche Hürden hinzu. Werden Auskunftsrechte geltend gemacht, beruft sich die Polizei oftmals auf Ausschlussgründe. Löschungsbegehren scheitern aus ähnlichen Gründen.
Insgesamt kommt es nur selten dazu, dass über die Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Speicherung von Daten einmal vor Gericht verhandelt wird. Die mit den Datenspeicherungen verbundenen Risiken nehmen derweil zu. Die polizeilichen Informationsbestände sind keine Friedhöfe, auf denen Datenbestände ihre letzte Ruhe finden. Schon seit Jahren wachsen die Begehrlichkeiten, die ohnehin vorhandenen Informationen aufzuarbeiten und miteinander zu verknüpfen, um daraus neue Erkenntnisse zu ziehen. Massendaten sind der Treibstoff für vielversprechende Anwendungen Künstlicher Intelligenz, nach denen auch die Polizeien ihre Fühler ausstrecken.
Datenspeicherung als Gegenstand der Entscheidung BKAG II
Die BKAG II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts befasst sich neben der Befugnis zur heimlichen Überwachung von Kontaktpersonen mit besonderen Mitteln zum Zweck der Terrorismusabwehr (§ 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BKAG) und der allgemeinen Befugnis zur Datenweiterverarbeitung im Informationssystem (§ 16 BKAG) mit § 18 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 BKAG als Rechtsgrundlage zur Speicherung von Daten im polizeilichen Informationsverbund. Diese Regelung hat das Gericht, soweit sie in Verbindung mit § 13 Abs. 3, § 29 BKAG die Speicherung personenbezogener Grunddaten durch das Bundeskriminalamt im polizeilichen Informationsverbund erlaubt, für verfassungswidrig erklärt.
§ 18 BKAG regelt die Weiterverarbeitung von Daten zu Verurteilten, Beschuldigten, Tatverdächtigen und sonstigen Anlasspersonen zur Erfüllung der Aufgaben des Bundeskriminalamts. Der weite Begriff der Weiterverarbeitung von Daten erfasst unter anderem ihre Speicherung, worunter nach der gebräuchlichen datenschutzrechtlichen Terminologie das Erfassen, Aufnehmen oder Aufbewahren von Informationen zu verstehen ist. Einer der wichtigsten Fälle der Speicherung von Daten ist ihre Aufnahme in den polizeilichen Informationsverbund, der als zentrale Datenplattform technisch vom Bundeskriminalamt betrieben wird. In diesem Informationsverbund stellen die teilnehmenden Polizeibehörden von Bund und Ländern einander Daten zur Verfügung.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Befugnis zur Datenspeicherung aus zwei Gründen gerügt: Es fehle ihr erstens an einer angemessenen Speicherschwelle und zweitens an ausreichenden Vorgaben zur Speicherdauer.
Keine Speicherung ohne echte Prognose
Zunächst rügte das Bundesverfassungsgericht die zu geringen Voraussetzungen für die Speicherung von Daten über Beschuldigte in § 18 Abs. 1 Nr. 2 BKAG. Der Wortlaut der Vorschrift verlangt nur die Beschuldigteneigenschaft einer Person und die Erforderlichkeit der Datenverarbeitung zur Erfüllung von Aufgaben des BKA als Zentralstelle für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen.
Dies bleibt hinter den Mindestvoraussetzungen zurück, welche die höchstrichterliche Rechtsprechung für die Speicherung personenbezogener Daten durch die Polizei aufgestellt hat: Die Festlegung eines Zweckes und die Erforderlichkeit der Daten, um zur Erfüllung dieses Zweckes beizutragen. Der Zweck von Datenspeicherungen im Informationsverbund ist die Vorsorge für die Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Daten werden deshalb gespeichert, weil sie in späteren Verfahren zur Verhütung und Verfolgung von Straftaten gebraucht werden könnten.
Während sich die Zwecke der Datenspeicherung aus § 18 Abs. 1 Nr. 2 BKAG in Verbindung mit § 2 BKAG hinreichend klar ergeben, erweist sich die Voraussetzung der Erforderlichkeit als Problem. Diese erfordert bereits nach früherer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „eine auf die Eignung der Daten für den Sammlungszweck bezogene Prognoseentscheidung der speichernden Behörde zum Zeitpunkt der Datenspeicherung“ (BVerfGE 120, 351 (367)). Bei dieser Prognose müsste zumindest begründet werden, dass die konkret gespeicherten Daten in der Zukunft für die Polizei nützlich sein können.
Einmal Beschuldigter, immer gefährlich?
Das Erfordernis einer solchen Prognose lässt sich aus § 18 Abs. 1 Nr. 2 BKAG selbst mit viel Fantasie nicht herauslesen. Die Systematik der Vorschrift legt eher nahe, dass Daten zu Beschuldigten immer als relevant für die Vorbereitung künftiger Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung erachtet werden. Denn während § 18 Abs. 1 BKAG für die Speicherung von Daten über Tatverdächtige (Nr. 3) und sonstige Anlasspersonen (Nr. 4) ausdrücklich Voraussetzungen für eine Prognose anführt, tut die Norm dies bei Beschuldigten nicht.
Aus dem Umstand, dass jemand Beschuldigter ist, lässt sich allein noch nicht auf die Relevanz der über ihn gespeicherten Daten schließen. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts ist „[d]er Status des Beschuldigten […] mit Unsicherheiten hinsichtlich der Beziehung zur vorgeworfenen Straftat verbunden und vermag deshalb für sich allein erst recht keinen belastbaren Schluss auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer relevanten Beziehung zu anderen zukünftig zu verfolgenden oder zu verhütenden Straftaten zu tragen.“ (Rn. 195).
Dementsprechend hat das Gericht die Fortgeltung der Befugnis zur Datenspeicherung an die Maßgabe geknüpft, dass „eine spezifische Negativprognose in der Weise gestellt worden ist, dass die Betroffenen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine strafrechtlich relevante Verbindung zu möglichen Straftaten aufweisen werden und gerade die gespeicherten Daten zu deren Verhütung und Verfolgung angemessen beitragen können. Diese Prognosen müssen sich auf zureichende tatsächliche Anhaltspunkte stützen.“ (Rn. 211).
Folgen für weitere Befugnisse
Das Bundesverfassungsgericht hat damit Voraussetzungen für polizeiliche Eingriffsschwellen auf § 18 BKAG angewandt, die in Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung stehen, diese aber konkretisieren. Interessant ist, dass das Gericht ausdrücklich anerkennt, dass die durch die streitgegenständliche Norm erlaubten Speicherungen Grundrechtseingriffe von erheblichem Gewicht bedeuten können. Als Umstände, die das Eingriffsgewicht der Speicherungen auf Grundlage von § 18 BKAG erhöhen, nennt das Gericht unter anderem die Möglichkeiten, Daten im polizeilichen Informationsverbund kooperativ weiterzuverwenden, die mit der Speicherung verbundene Zweckänderung sowie die mögliche Herkunft der Daten aus eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen.
Dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht durch polizeiliche Datenspeicherungen nicht nur geringfügig beeinträchtigt wird, war lange keine selbstverständliche Annahme. Der Speicherung als Zwischenphase zwischen der ursprünglichen Erhebung von Daten und ihrer späteren (potentiellen) Verwendung in konkreten Verfahren wurde vergleichsweise wenig rechtliche Bedeutung zugemessen.
Betrachtet man das größere Bild der polizeilichen Informationsordnung, lassen sich vergleichbar zu § 18 Abs. 1 Nr. 2 BKAG einige weitere Konstellationen identifizieren, in denen Daten auf zweifelhafter Grundlage gespeichert werden. So erklärt etwa § 75 Abs. 3 Satz 1 BWPolG die Speicherung von personenbezogenen Daten zur Vorbereitung der Gefahrenabwehr für eine Dauer von bis zu zwei Jahren für erforderlich, wenn der Verdacht einer Straftat besteht. Hier wird direkt von einem bestehenden Tatverdacht auf die künftige Gefährlichkeit einer Person oder zumindest ihr Auftreten in einem Gefahrenkontext geschlossen. Dieser Verdacht aus der Vergangenheit kann nur Grundlage einer Prognose sein, diese aber nicht ersetzen.
Eine weitere heikle Regelung zur Datenspeicherung findet sich in § 18 Abs. 5 BKAG. Über diese hat das Bundesverfassungsgericht nicht entschieden, weil es ihre Rüge nicht als hinreichend substantiiert ansah (Rn. 77). § 18 Abs. 5 BKAG sieht eine Weiterverarbeitung von Daten über Freigesprochene nur dann als unzulässig an, wenn sich aus den Gründen der Entscheidung ergibt, dass die betroffene Person die Tat nicht oder nicht rechtswidrig begangen hat. Jedenfalls auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dürfte aber die Annahme eines (Rest-)Verdachts als Grundlage einer Speicherung nach einem rechtskräftigen Freispruch stets unzulässig sein.
Schließlich gehören auch die allgemeinen Befugnisse zur Datenspeicherung, die sich in den Polizeigesetzen der Länder finden, nach den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts auf den Prüfstand.
Fristen, Datenstrukturen und Organisation
Neben der zu niedrigen Schwelle für die Speicherung hat das Bundesverfassungsgericht gerügt, dass es im Zusammenhang mit der Befugnis aus § 18 Abs. 1 Nr. 2 BKAG „an einem hinreichend ausdifferenzierten Regelungskonzept zur Speicherdauer“ fehle (Rn. 200). Die allgemeine Regelung über die Berichtigung und Löschung von Daten in § 75 BDSG sah das Gericht in diesem Zusammenhang als unzureichend an, da die Entscheidung über die Löschung durch das Bundeskriminalamt „im Rahmen einer durch Gesetz oder Verordnung nicht hinreichend angeleiteten Einzelfallbearbeitung“ getroffen werde (Rn. 200).
Dass die Speicherung von personenbezogenen Daten naturgemäß ein zeitlich begrenzter Vorgang ist, ist im Datenschutzrecht anerkannt. Damit dieses Prinzip eingehalten wird, sind für die jeweilige Konstellation angepasste Prüf- und Löschfristen und technische Absicherungen erforderlich. Beides ist in polizeilichen Informationssystemen derzeit nicht vorhanden. Die Prüffristen für Daten werden zum Teil den speichernden Stellen selbst überlassen oder sind selbst für vergleichsweise geringfügige Delikte überaus großzügig bemessen, reichen bis zu zehn Jahren und beginnen neu, sofern weitere Daten ergänzt werden („Mitzieheffekt“).
Genauere gesetzgeberische Regelungen über die Löschfristen von Daten zu fordern, ist vor dem Hintergrund der Annahme, dass auch Speicherungen ein erhebliches Eingriffsgewicht haben können, konsequent und richtig. Allerdings sind die Fristregelungen nur ein Stück in einem zu vervollständigenden Puzzle von Regelungen über Datenstrukturen, Verfahren und Organisation. So gibt es rechtlich praktisch keine konkreten Regelungen, die effektiv dazu beitragen, dass Daten, die in polizeiliche Systeme Eingang finden, qualitativ überprüft werden. Auch die Zugriffsmöglichkeiten auf entsprechende Systeme sowie ihre Kontrolle durch Aufsichtsbehörden und Betroffene sollten deutlich genauer geregelt werden.
Fazit
Ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu beitragen kann, dass die Anforderungen an Datenspeicherungen im föderalen System der kriminalbehördlichen Informationsordnung insgesamt ernster genommen werden, bleibt abzuwarten. Sie kann jedenfalls einen Auftakt zu einer gründlicheren Befassung mit diesem Themenkomplex aus rechtlicher Sicht bilden. Angesichts der Perspektiven vernetzter Informationssysteme auf nationaler und europäischer Ebene erscheint es dringend erforderlich, dass rechtlich ein Beitrag zur Ordnung im polizeilichen Datenhauses geleistet wird.