Ein „Hochschulsicherheitsrecht“ verstößt gegen die verfassungsrechtliche Gewährleistung wissenschaftlicher Forschung und Lehre – Go Health Pro

Wir appellieren an Sie: Frau Ministerin Brandes, ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!

 

Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler aus allen juristischen Fakultäten des Landes NRW haben sich zu der folgenden Stellungnahme zusammengeschlossen. Sie trägt die Unterschrift einer deutlichen Mehrzahl aller aktiven Hochschullehrer des Verfassungsrechts, mehrere Rechtsfakultäten sind mit ihrem Öffentlichen Recht vollständig vertreten.

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Wir lehren und forschen zum Verfassungsrecht – das ist unser dienstlicher Auftrag und unsere gemeinsame Verpflichtung, die wir als Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer an den Universitäten des Landes Nordrhein-Westfalen wahrnehmen. Uns trennen oftmals politische Grundauffassungen und juristische Ordnungsvorstellungen, wir streiten miteinander im akademischen Austausch und als Gutachter oder Prozessvertreterinnen vor den Verfassungsgerichten. Als BeamtInnen und als Verteidiger des freiheitlichen Verfassungsstaats empfinden wir hohen Respekt vor dem politischen Mandat der Landesregierung und der Gestaltungsaufgabe des Parlaments. Daher äußern wir uns in dieser gemeinsamen Stellungnahme zu einem laufenden Gesetzgebungsverfahren nur deswegen, weil wir in großer Sorge sind, dass ein nicht wiedergutzumachender Schaden droht.

Ein solcher Fall liegt mit dem Entwurf des „Hochschulstärkungsgesetzes“ vor, das geeignet ist, die Wissenschaftsfreiheit ernsthaft und nachhaltig zu beschädigen und dadurch die Hochschulen nicht zu stärken, sondern sie zu schwächen. Nordrhein-Westfalen würde von seiner insgesamt guten hochschulrechtlichen Position nicht nur in eine Außenseiterlage gebracht. Sollten die vorgeschlagenen Regelungen geltendes Recht werden, drohen langwierige verfassungsrechtliche Streitigkeiten vor dem Verfassungsgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht. Der Gesetzentwurf ist von einem tiefen Misstrauen gegen die Selbstverwaltung in Forschung und Lehre durchzogen und etabliert gefährliche Instrumente, die Innovation und Engagement beschädigen werden. Von diesem Engagement aber lebt die Hochschullandschaft. Daher appellieren wir an Frau Ministerin Brandes: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück! Verzichten Sie auf eine Haltung des Misstrauens, die mit diesem Gesetz in die Hochschulen getragen wird!

Die Organisationen, die für die Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen stehen, formulieren in diesen Tagen ihre Stellungnahmen zum Gesetzentwurf. Wir – als Lehrende des Verfassungsrechts in den Hörsälen, als BetreuerInnen des wissenschaftlichen Nachwuchses und als Vertreter der akademischen Selbstverwaltung in den Gremien vor Ort – beschränken unsere Kritik auf drei grundsätzliche Aspekte, die geeignet sind, die Arbeit in den Hochschulen in ihrer Substanz zu treffen:

  • Der Gesetzentwurf etabliert eine Vielzahl an Standards und neuen abstrakten Zielsetzungen, die von den Hochschulen jeweils ausgearbeitet werden sollen, um sie überhaupt anwendbar zu machen. Nur scheinbar ist das eine Stärkung der Selbstverwaltung. Tatsächlich werden damit nicht nur mutwillig wissenschaftsfremde Konflikte in die Hochschulen getragen und abertausende von Arbeitsstunden auf Dauer gebunden, die Forschung, Lehre und Transfer verloren gehen – an jeder einzelnen Hochschule, immer und immer wieder. Dass der Entwurf unter „Kosten: keine“ angibt, ist geradezu eine Verhöhnung der akademischen Selbstverwaltung – es offenbart ein Verständnis, es handele sich bei den Hochschulen letztlich um nachgeordnete Dienststellen. Das aber steht im klaren Gegensatz zum verfassungsrechtlichen Auftrag und zum verfassungsrechtlichen Schutz der Hochschulen gegenüber einer solchen Indienstnahme.
  • Die vorgesehenen Regelungen zur Promotionsbetreuung sind von einer Missbrauchsperspektive durchdrungen und inhaltlich vollkommen sachwidrig. Selbstverständlich sind Qualitätssicherung und der Schutz der Eigenständigkeit von DoktorandInnen im Verfahren das zentrale Ziel jedes Promotionsverfahrens. Dass aber eine Bewertung von Dissertationen regelmäßig nicht durch Betreuerinnen und Betreuer erfolgen soll, ist angesichts der hohen Ausdifferenzierung der Fachforschung von vornherein nicht praktikabel. Es ist schlicht unmöglich, dass praktisch jede/r Hochschullehrende sämtliche Forschungsarbeiten des Gesamtfachs vollständig in der Tiefe beurteilen könnte. Was machen kleine Fächer, an denen es überhaupt keine Zweit- oder Drittzuständigkeiten gibt? Welchen Anreiz sollte es geben, hochkomplexe „fremde“ Arbeiten jenseits des eigenen Forschungsgebiets originär zu beurteilen – auf Kosten eigener Forschungs- und Betreuungsleistungen? Wie sollten entsprechende Gutachten dann von Dritten eingeschätzt werden, etwa in den Verlagen und anderen Forschungsinstitutionen?
  • In besonders dramatischer Weise ist der neue Teil 10 „Sicherheit und Redlichkeit in der Hochschule“ (§§ 84–97 HG-E) misslungen. Wir stehen im Hörsaal Tag für Tag ganz praktisch und konkret dafür ein, dass die Hochschulen als akademischer Lebensraum ein Ort des Mutes, des Zutrauens, der freien Rede, des gemeinsamen Wagnisses sind. Wir sind dem gemeinsamen Ziel verpflichtet, durch offenen Diskurs bessere Argumente zu formulieren, Irrtümer zu entdecken, der Wahrheit näher zu kommen. Das gelingt nur im wechselseitigen Vertrauen, und dabei können auch Grenzüberschreitungen vorkommen. Für solche Fälle haben die Hochschulen seit langem Instrumente der Klärung etabliert, die allen Statusgruppen offenstehen. Die Asymmetrie in der Lehre und Forschung stellt dabei immer wieder eine Herausforderung dar, ebenso die gemeinsame Verpflichtung, sich wechselseitig zu respektieren. Alle diese Bemühungen wischt der Gesetzentwurf weg, mit einer großen Geste, die sich dienstrechtlich als hohl erweist: Denn selbstverständlich können wegen des Vorbehalts des Parlamentsgesetzes – einer zentralen demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaft – eben nicht Straf- und Disziplinierungsentscheidungen im Wege der Selbstverwaltung legitimiert werden. Die Idee eines „Hochschulsicherheitsrechts“ verlässt den Boden des verfassungsrechtlichen Schutzes der Wissenschaft und rechtsstaatlicher Verfahrensvorgaben. Und damit richtet der Gesetzentwurf wissenschaftspolitisch Schaden in doppeltem Sinn an: Den wirklichen Opfern von Diskriminierung gibt er Steine statt Brot, und alle Hochschulen überzieht er mit einem System des institutionalisierten Misstrauens.

Unsere Einwände betreffen nicht eine symbolische Seite des Gesetzentwurfs, sondern zielen auf seine Grundperspektive. Was durch die Regelungen des Referentenentwurfs verursacht wird, ist eine Umwidmung der Hochschulen von Orten des gemeinsamen Wagnisses auf der Suche nach Wahrheit zu Orten des Verdachts und der Disziplinierung – vielleicht, ohne das in dieser Schärfe zu wollen. Wir stehen sehr gerne bereit, Ihnen, Frau Ministerin, als „Ihre“ Fachleute an „Ihren“ Hochschulen diese (und weitere) Sachgesichtspunkte näher zu erläutern. Haben Sie den Mut und die Stärke, den Gesetzgebungsprozess neu aufzusetzen. Mit dem vorgelegten Entwurf verlieren Sie die Mitglieder der Hochschulen, Sie verlieren Engagement und Leidenschaft, die wir für eine gute Zukunft des Hochschulstandortes NRW in Lehre, Forschung und Transfer benötigen!

13.12.2024

  1. Prof. Dr. Wolfgang Cremer, Ruhr-Universität Bochum
  2. Prof. Dr. Andrea Edenharter, FernUniversität in Hagen
  3. Prof. Dr. Dirk Ehlers, Universität Münster
  4. Prof. Dr. Christoph Engel, MPI/Universität Bonn
  5. Prof. Dr. Joachim Englisch, Universität Münster
  6. Prof. Dr. Jörg Ennuschat, Ruhr-Universität Bochum
  7. Prof. Dr. James Fowkes, LL.M. (Yale), Universität Münster
  8. Jun.-Prof. Dr. Friederike Gebhard, Universität Bielefeld
  9. Prof. Dr. Patrick Hilbert, Universität Münster
  10. Prof. Dr. Michaela Hailbronner, LL.M. (Yale), Universität Münster
  11. Prof. Dr. Andreas Haratsch, FernUniversität in Hagen
  12. Prof. Dr. Johannes Hellermann, Universität Bielefeld
  13. Prof. Dr. Bernd Holznagel, LL.M. (McGill), Universität Münster
  14. Prof. Dr. Stefan Huster, Ruhr-Universität Bochum
  15. Prof. Dr. Markus Kaltenborn, Ruhr-Universität Bochum
  16. Prof. Dr. Simon Kempny, LL.M. (UWE Bristol), Universität Bielefeld
  17. Prof. Dr. Michael Kotulla, Universität Bielefeld
  18. Prof. Dr. Marcel Krumm, Universität Münster
  19. Prof. Dr. Julian Krüper, Ruhr-Universität Bochum
  20. Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago), Universität Münster
  21. Prof. Dr. Stefan Magen, M.A., Ruhr-Universität Bochum
  22. Prof. Dr. Nora Markard, MA (King´s College), Universität Münster
  23. Jun.-Prof. Dr. Maria Marquardsen, Ruhr-Universität Bochum
  24. Prof. Dr. Franz Mayer, LL.M. (Yale), Universität Bielefeld
  25. Prof. Dr. Lothar Michael, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
  26. Prof. Dr. Martin Morlok, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
  27. Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Angelika Nußberger, M.A., Universität zu Köln
  28. Prof. Dr. Niels Petersen, M.A., Universität Münster
  29. Prof. Dr. Stefan Pieper, Universität Münster
  30. Prof. Dr. Bodo Pieroth, Universität Münster
  31. Prof. Dr. Arne Pilniok, Universität Bielefeld
  32. Jun.-Prof. Hannah Ruschemeier, FernUniversität Hagen
  33. Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität zu Köln
  34. Prof. Dr. Heiko Sauer, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
  35. Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität zu Köln
  36. Prof. Dr. Sophie Schönberger, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
  37. Prof. Dr. Roman Seer, Ruhr-Universität Bochum
  38. Prof. Dr. Angelika Siehr, LL.M. (Yale), Universität Bielefeld
  39. Prof. Dr. Indra Spiecker gen. Döhmann, LL.M. (Georgetown), Universität zu Köln
  40. Prof. Dr. Gernot Sydow, M.A., Universität Münster
  41. Prof. Dr. Pierre Thielbörger, M.PP., Ruhr-Universität Bochum
  42. Prof. Dr. Sebastian Unger, Ruhr-Universität Bochum
  43. Prof. Dr. Matthias Valta, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
  44. Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Universität Münster
  45. Prof. Dr. Thomas Wischmeyer, Universität Bielefeld
  46. Prof. Dr. Fabian Wittreck, Universität Münster

Die Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner lehren Verfassungsrecht an den juristischen Fakultäten der Universitäten in Nordrhein-Westfalen. Es besteht die Möglichkeit, sich über diesen Kreis hinaus der Stellungnahme anzuschließen. Dazu wird um eine kurze Nachricht an stellungnahme.hochschulgesetz@gmx.de gebeten.

Der Gesetzentwurf des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft findet sich unter https://www.mkw.nrw/system/files/media/document/file/refe_hochschulstaerkungsgesetz.pdf

 

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