Die Wehrpflicht ist eine verfassungsrechtlich in Art. 12a GG geregelte Grundpflicht deutscher Bürger (nicht Bürgerinnen). Sie wurde im Jahre 2011 einfachgesetzlich ausgesetzt (§ 2 WPflG), lebt im Spannungs- und Verteidigungsfall (Art. 80a u. 115a GG) aber automatisch wieder auf. Seit Russland Krieg gegen die Ukraine führt und Expert*innen annehmen, dass ein militärischer Test der NATO durch Russland in naher Zukunft bevorsteht, will Deutschland wieder wehrhaft werden.
Im Koalitionsvertrag steht nun ein Modell für den Wehrdienst. Die jungen Menschen in Deutschland lehnen den Wehrdienst aber mehrheitlich ab. Sie haben ein zum Teil sehr transaktionales Verständnis von der Wehrpflicht: Tut Deutschland nichts Spezielles für mich, tue ich auch nichts für Deutschland. Die Pflicht der Bürger, ihren Staat zu schützen, beruht zwar auf Gegenseitigkeit, sie ist aber weniger ichbezogen als vielmehr gemeinschaftsbezogen konzipiert: Der Staat schützt die Freiheit und die Würde seiner Bürger*innen. Wird er von außen angegriffen, kann er als Schutzmacht nur überleben, wenn seine Bürger*innen mit Waffengewalt für seinen Bestand kämpfen. Und deshalb darf er seine männlichen Bürger zum Wehrdienst verpflichten. Wehrpflichtige dürfen im Gegenzug den Kriegsdienst verweigern, wenn es sie in arge Gewissensnot bringt, andere Menschen im Krieg töten zu müssen (Art. 4 Abs. 3 GG). Die deutsche Verfassung hat mit dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung eine selbst für demokratische Rechtsstaaten außergewöhnlich starke Exit-Option für die Wehrpflichtigen geschaffen. Es verwundert nicht, dass nun, da das deutsche Narrativ vom ewigen Frieden hin zur drohenden Kriegsgefahr verschoben wird, die Axt an das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung gelegt wird. Wird es halten, was es verspricht, oder wird es fallen, weil Not letztlich doch kein Gebot kennt, moderne Kriege auch konventionell geführt werden und Masse brauchen? Sollte man noch eben schnell verweigern?
„Zunächst“ das schwedische Modell
Die Koalitionspartner CDU/CSU und SPD hatten sich während der Koalitionsverhandlungen schwer beharkt und ihre Vorstellungen von einer neuen Wehrpflicht wechselseitig als halbgar, unausgegoren oder als Stückwerk attackiert. Im Koalitionsvertrag steht deshalb jetzt ein dilatorischer Formelkompromiss. Die Koalitionsfraktionen „schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert“ (Zeile 4149).
Die Wehrtüchtigkeit Deutschlands wird also erst einmal langsam hochgefahren mit einer abgespeckten Variante der schwedischen Värnplikt. Das ist klug, denn für eine allgemeine Wehrpflicht ist eine entsprechende Infrastruktur – Wehrerfassung, Wehrüberwachung, Kasernen, Übungsplätze, Ausbilder*innen, Material – erforderlich. Sie muss sukzessive aufgebaut werden. Der neue Wehrdienst geht auf einen Gesetzesentwurf aus dem BMVg aus der letzten Legislaturperiode zurück. Er verfolgt mehrere Ziele. Das wichtigste Ziel ist, durch eine bei der Bundeswehr automatisierte Wehrerfassung und Wehrüberwachung eine belastbare Datengrundlage zu allen wehrpflichtigen Männern und wehrwilligen Frauen zu erhalten. Alle Männer und Frauen ab einem bestimmten Jahrgang werden daher kontaktiert. Die Männer müssen verpflichtend einen Fragebogen ausfüllen und signalisieren, was sie können und ob sie bereit sind, zu dienen – entweder als Berufs- oder Zeitsoldat oder als Freiwillig Wehrdienstleistender. Gemustert und eingezogen wird dann ausschließlich auf freiwilliger Basis. Der im Gesetzesentwurf so genannte Basiswehrdienst soll zwischen sechs und 23 Monaten dauern. Die Frauen füllen den Bogen nur aus, wenn sie das wollen. Diese Unterscheidung nach Geschlechtern orientiert sich am geltenden Recht. Die Wehrpflicht kombiniert nämlich mehrere Rechtspflichten miteinander (§ 3 Abs. 1 WPflG). Zu ihrem Kern gehören die Pflichten, sich mustern und einziehen zu lassen. In ihren Randbereich fällt die Pflicht, sich erfassen zu lassen. Da die Wehrerfassung also Teil der Wehrpflicht ist, und diese Pflicht Frauen insgesamt nicht adressiert, verzichtet der Gesetzgeber ihnen gegenüber auch auf die Pflicht, den Erfassungsbogen ausfüllen zu müssen. Zweites Ziel der Wehrerfassung ist es, mehr Freiwillige für den Bund zu gewinnen. Zielgröße sind zunächst 5.000 Freiwillige mehr pro Jahr. Eine schrittweise Erhöhung dieser Zahl ist in dem Gesetzesentwurf eingepreist. Verfassungsrechtliche Probleme mit dieser deutschen Variante der Värnplikt gibt es nicht. Die Frage ist eher ob das Modell funktionieren wird, oder ob die Bundeswehr die Quote derer, die sich freiwillig verpflichten wollen, nicht längst ausgeschöpft hat.
Plan für eine Kontingentwehrpflicht
Die CDU/CSU favorisiert deshalb eine „richtige Wehrpflicht“ für den schnelleren Aufbau einer größeren Armee mit einer hohen Aufwuchsfähigkeit aus der Reserve. Ihre Lösung ist die Kontingentwehrpflicht. Das Kontingent der einzuziehenden Soldaten orientiert sich dabei ausschließlich am Bedarf der Bundeswehr. Es soll eine Bestenauslese unter allen Wehrpflichtigen stattfinden. Die Kontingentwehrpflicht setzt die Aufhebung der Aussetzung der Wehrpflicht aus § 2 WPflG voraus. Deckt das Kontingent an freiwilligen Besten den Bedarf der Bundeswehr nämlich nicht, wird zwangsweise rekrutiert. Das Modell ist nicht neu. Bereits im Jahr 2000 schlug die Kommission zur Strukturreform der Bundeswehr eine juristisch stark umstrittene Auswahlwehrpflicht vor. Die Kontingent- oder Auswahlwehrpflicht widerspricht in ihren Zwangskomponenten nämlich dem Verfassungsgrundsatz der Wehrgerechtigkeit. Sie verfassungskonform auszugestalten, wird schwierig sein.
Die Wehrgerechtigkeit ist eine Ausprägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Sonderform der allgemeinen Lastengleichheit Alle wehrpflichtigen Männer sollen gleichermaßen die Last tragen müssen, sich durch den Wehrdienst darauf vorzubereiten, das Vaterland mit Waffen zu verteidigen. Im Frieden werden nie alle jungen Männer eingezogen. Das erscheint nicht gerecht. Berechnet wird die Wehrgerechtigkeit, indem man die Zahl aller aus einem Jahrgang zwangsverpflichteten Männer ins Verhältnis setzt zu der Zahl aller Männer aus einem Jahrgang, die der Bundeswehr tatsächlich zur Verfügung stehen. Tatsächlich stehen der Bundeswehr nur diejenigen Männer zur Verfügung, die keine der vielen Wehrdienstausnahmen in den §§ 9 bis 13a WPflG für sich reklamieren können; also weder untauglich, ausgeschlossen, befreit, zurück- noch unabkömmlich gestellt sind. Die Zahl der zwangsweise zum Wehrdienst Verpflichteten muss der Zahl der tatsächlich zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen zumindest nahekommen (BVerwG 6 C 9.04). Mit anderen Worten: Es darf keine allzu große Lücke entstehen zwischen denen, die nach den festgelegten Kriterien im WPflG theoretisch eingezogen werden müssten, und denen, die faktisch eingezogen werden. Das gilt auch für den Fall, dass der Personalbedarf der Streitkräfte mit wenigen Zwangsrekrutierten schon gedeckt ist. Von 1991 bis 2009 sank die Zahl der Grundwehrdienstleistenden in Deutschland von 210.981 auf 68.304 Mann. Wie von Zauberhand sank die Zahl der tatsächlich zur Verfügung stehenden jungen Männer in diesem Zeitraum gleich mit. Der Gesetzgeber hob nämlich die Tauglichkeitsschwelle für den Dienst an und erweiterte das Set an Kriterien für Wehrdienstausnahmen.
Die Zahl der zwangsweise zu rekrutierenden Wehrpflichtigen orientiert sich selbstverständlich immer am Personalbedarf der Streitkräfte. Denn deren Funktionsfähigkeit hat Verfassungsrang (BVerfGE 69, 1). Entsteht eine zu große Lücke zwischen den Eingezogenen und den Nichteingezogenen, weil der Personalbedarf gering, die Jahrgangsstärke aber hoch ist, kann der Gesetzgeber durch eine Vermehrung der Wehrdienstausnahmen diese Lücke stopfen. Der Personalbedarf der Streitkräfte allein darf aber nicht über die Menge der Zwangsrekrutierungen entscheiden. Die Wehrgerechtigkeit ist als zweiter Verfassungsgrundsatz zu berücksichtigen. Obwohl der Gesetzgeber im Wehrpflichtgesetz über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt, verlangt Art. 3 Abs. 1 GG von ihm deshalb eine „enge und überschaubare, normative Ausgestaltung der Ausnahmen von der Wehrpflicht“. Die allgemeine Wehrpflicht nach Art. 12a Abs. 1 GG muss also vor allem eins bleiben: allgemein. Will der Gesetzgeber eine Kontingentwehrpflicht mit Bestenauslese regeln, kann er dies nicht ohne Weiteres tun, indem er z.B. die Tauglichkeitskriterien auf T1 anhebt oder – je nach Verwendungsprofil, das die Bundeswehr benötigt – differenziert. Damit würde er die allgemeine Wehrpflicht in eine individuelle Wehrpflicht verwandeln, die ein Sonderopfer von den je bereichsspezifisch Besten abverlangt. Das wäre ein Verfassungsverstoß. Deshalb muss die CDU/CSU ihre Kontingentwehrpflicht auch in eine allgemeine Dienstpflicht einbetten, um die tiefen Grundrechtseingriffe in die Berufsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit der jungen Männer auf alle gleichermaßen zu verteilen.
Eben noch schnell den Kriegsdienst verweigern?
Trotz hoher Kosten ist nicht klar, ob und wann die Wehrpflicht wieder auflebt, wen sie trifft, oder ob und wann unter einem russischen Angriff auf NATO-Gebiet der Spannungs- und Verteidigungsfall eintritt. Es könnte deshalb taktisch klug sein, unter den bislang unverändert geltenden, großzügigen rechtlichen Bedingungen schnell noch den Kriegsdienst zu verweigern. Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG schützt den Wehrpflichtigen vor der Not seines Gewissens, im Kriegsfall selbst töten oder einen unmittelbaren Beitrag zum Töten leisten zu müssen. Der BGH hält es in einem Beschluss zur Auslieferung eines ukrainischen Kriegsdienstverweigerers für möglich, dass dieses Grundrecht im Kriegsfall wesentlich entkernt wird.
Ein Grundrecht ist ein Grundrecht ist ein Grundrecht
In Krisenzeiten flirren regelmäßig Begriffe wie Ausnahmezustand oder Staatsnotstand durch die Medien. Sie bedeuten für ein antidemokratisches Mindset à la Carl Schmitt, dass sich die Geltungskraft von Normen auf die Normalität beschränkt. Im Ausnahmezustand dürfen Normen dagegen außer Kraft gesetzt werden, um den Bestand des Staates zu retten. Das ist nicht das Staatsverständnis des Grundgesetzes und gilt erst recht nicht für den Verteidigungsfall. Das Grundgesetz hat sich bewusst gegen eine systemsprengende Generalklausel entschieden, mit der Grundrechte zur Bekämpfung von Notständen suspendiert werden dürften. Und es hat sich durch die Einfügung der Notstandsverfassung von 1968, zu der die Art. 80a und 115a ff. GG für den äußeren Notstand gehören, auch explizit gegen einen Rückgriff auf ungeschriebenes Notstandsrecht in Kriegszeiten ausgesprochen. Genauso wenig wird die verfassungsrechtliche Grundpflicht aus Art. 12a Abs. 1 GG, die ihr Pendant in der Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen findet, von ungeschriebenen und damit für das Verfassungsrecht nicht relevanten besonderen Treuepflichten des Bürgers überlagert (BVerfGE 12, 45 [57 f.]; BGH Beschl. v. 16.1.2025 – ARs 11/24 Rn. 38). Ohne eine eher unwahrscheinliche Verfassungsänderung gilt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gerade im äußeren Staatsnotstand. Krisenzeiten verführen allerdings dazu, die Gesetzesvorbehalte von Grundrechten umfassender auszunutzen, ihre abwehrrechtlichen Dimensionen stärker einzuschränken und die Gemeinschaftsbezogenheit von Freiheit intensiver zu betonen. Das kann auch dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung passieren – entweder durch eine gesetzliche Verschärfung des Anerkennungsverfahrens oder durch eine Beschränkung der Anerkennungspraxis. Die aktuelle Anerkennungsquote von Kriegsdienstverweigerern ist nämlich hoch.
Kriegsdienstverweigerung im Kalten Krieg
Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ist vorbehaltlos garantiert und kann in seinem Kernbereich – der Gewissensentscheidung – auch durch die kollidierenden Verfassungsgüter der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr und der effektiven Landesverteidigung nicht eingeschränkt werden (BVerfGE 69, 1 [54 f.]). Nach Art. 4 Abs. 3 S. 2 GG darf der einfache Gesetzgeber allerdings „das Nähere“ regeln. Diese Regelungsbefugnis stellt keinen klassischen Gesetzesvorbehalt dar, über den der Inhalt des Grundrechts eingeschränkt werden könnte. Sie ist nur ein Verfahrensvorbehalt. Der einfache Gesetzgeber darf Vorgaben für das Verfahren zur Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Gewissensentscheidung machen (§§ 5 bis 8 KDVG). Er darf ferner das Antragsverfahren ausgestalten, die Zuständigkeiten regeln und normieren, welche Rechtswirkungen die Antragstellung, die Ablehnung eines Antrags und die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer haben.
Im Kalten Krieg hatte die Bundeswehr einen hohen Personalbedarf. Die Deutschen hatten den Alliierten ein Massenheer von einer halben Million Soldaten versprochen. Die Politik sorgte sich deshalb, dass sie wegen eines zu laxen Anerkennungsverfahrens für Kriegsdienstverweigerer der NATO nicht genügend Masse liefern könnte. Entsprechend rigide war die Gewissensprüfung von 1956 bis 1983 ausgestaltet. Jeder einzelne Verweigerer wurde vor einen Prüfungsausschuss zitiert, der im Geschäftsbereich des BMVg angesiedelt war. Sein Gewissen wurde unter dem Vorsitz eines Mitarbeiters aus dem BMVg inquisitorisch ausgeforscht. Die Szenarien, die das BMVg ihn mündlich durchspielen ließ, waren kreativ. Die Prüfungsausschüsse fragten z.B. nach seiner Einstellung zum Tyrannenmord, zum passiven Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, die seinen Widerstand durch die Erschießung von Geiseln brechen wolle, nach seiner Bereitschaft, die Ehre seiner Freundin mit Gewalt zu verteidigen, oder warum er Auto fahre, wenn Autounfälle doch Menschenleben forderten. Die behördliche Gewissensprüfung bestanden zeitweise mehr als 40 % der Antragsteller nicht. Die Gegenreaktion der heute als „Boomer“ bekannten Generation war nicht weniger drastisch, um wenigstens als untauglich ausgemustert zu werden. Sie rauchten wochenlang Kette und nahmen Drogen, um ihre Belastbarkeit auf Null zu reduzieren, liefen unaufhörlich mit einem Fuß auf dem Bordstein und dem anderen in der Gosse, um sich manifestes Humpeln anzutrainieren – oder sie flohen nach Westberlin, wo die Wehrpflicht im Kalten Krieg nicht galt.
Als die Zahl der Kriegsdienstverweigerer mit den 1968ern sprunghaft anstieg, kam das inquisitorische Verweigerungsverfahren an die Grenzen seiner Überbürokratisierung. Es musste entschlackt werden. Die SPD schlug eine „Postkartenlösung“ vor. Sie wollte künftig auf eine mündliche Anhörung verzichten. Ihr reichte es aus, wenn der Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt schriftlich anzeigte, dass ihm sein Gewissen verbiete, Wehrdienst zu leisten. Das BVerfG kippte diese Wehrpflichtnovelle (BVerfGE 48, 127): Die Verfassung sehe kein einfaches Wahlrecht zwischen Wehr- und Ersatzdienst vor. Die bewaffnete Landesverteidigung habe als verfassungsrechtliche Grundpflicht Vorrang vor einem zivilen Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer. Der Gesetzgeber habe zwar einen weiten Gestaltungsspielraum, wie er die Feststellung der Gewissensentscheidung organisiere. Er müsse aber „ausschließen, daß der wehrpflichtige Bürger den Wehrdienst nach Belieben verweigern kann“ (BVerfGE 48, 127 [168 f.]). Der Wehrdienst mit der Waffe muss also der Regelfall sein, die Verweigerung die lästige Ausnahme bleiben. Das Verfahren zur Prüfung des Gewissens muss dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis widerspiegeln. Im Klartext: Den Verweigerern darf ihr Ausstieg aus der bewaffneten Landesverteidigung nicht zu leicht gemacht werden.
Kriegsdienstverweigerung heute
Seit 1983 ist das schriftliche Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer die Regel. Es wird vom Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben, einer zivilen Behörde im Geschäftsbereich des Bundesfamilienministeriums, durchgeführt. Das Verfahren auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen läuft seit 2003 für alle Statusgruppen – aktive Soldat*innen, Reservist*innen und ungediente Wehrpflichtige – gleich. Eine Gewissensentscheidung ist dem (Wahrheits-)Beweis zwar nicht zugänglich. Trotzdem ist der Antragsteller in der Beweispflicht. Er muss jegliche Zweifel des Bundesamtes an der Ernsthaftigkeit seiner Gewissensentscheidung und an der Glaubwürdigkeit seiner Person aus dem Wege räumen. Das BVerwG verlangt, dass Kriegsdienstverweigerer ihre persönliche Entwicklung, ihre Lebensführung und ihre Motive darlegen und aufdecken, wer oder was ihre Entscheidung beeinflusst hat (BVerwG 6 B 55.20). Der Begründungsaufwand für gediente Soldat*innen ist hier höher, denn sie haben mit ihrem Dienst an der Waffe bereits signalisiert, dass sie eigentlich kein Gewissensproblem damit haben, andere Menschen im Krieg zu töten. Sie müssen deshalb darlegen, welches Schlüsselereignis ihre innere Umkehr ausgelöst hat. Das gilt auch für Reservist*innen. Bleiben im schriftlichen Verfahren Zweifel, können die Antragsteller*innen mündlich angehört werden. Können sie die Zweifel nicht ausräumen, wird ihr Antrag abgelehnt (§§ 5-8 KDVG).
Eine wiederbelebte Wehrpflicht trifft deutsche Männer zwischen dem 18. und dem 60. Lebensjahr (§ 3 Abs. 5 WPflG). Für ungediente und noch nicht gemusterte Wehrpflichtige gilt für eine Verweigerung des Wehrdienstes nach Art. 4 Abs. 3 GG folgender Verfahrensablauf: In der Regel können sie ein halbes Jahr vor ihrem 18. Geburtstag einen Antrag stellen (§ 2 Abs. 4 KDVG), danach jederzeit. Die Antragstellung hindert nach § 3 Abs. 1 KDVG weder die Erfassung des Wehrpflichtigen noch seine Musterung. Im Gegenteil. Auf die Antragstellung folgt die Musterung. Das für die Verweigerung zuständige Bundesamt wird aus ökonomischen Gründen nämlich erst tätig, wenn feststeht, dass der Antragsteller für den Wehrdienst überhaupt zur Verfügung steht, vor allem also tauglich ist. Deswegen muss der Antrag auch beim Karrierecenter der Bundeswehr gestellt werden. Die Bundeswehr leitet den Antrag an das Bundesamt erst weiter, wenn der (notwendig positive) Musterungsbescheid unanfechtbar geworden ist (§ 2 Abs. 6 S. 2 KDVG). Wird der Antrag auf Verweigerung seinerseits dann unanfechtbar abgelehnt, schickt das Bundesamt die Personalakte des Antragstellers an das Karrierecenter der Bundeswehr zurück. Dort verbleibt sie für einen schnellen Zugriff auf ihn im Spannungs- und Verteidigungsfall so lange, bis die Wehrpflicht des Betreffenden endet (§ 12 Abs. 3 KDVG). Nicht jeder potentielle Kriegsdienstverweigerer möchte ohne derzeit dringende Not „im System“ bereits als tauglich gespeichert sein.
Den Ball flach halten
Selbst wenn ein Krieg mit Russland wahrscheinlich sein sollte, steht Deutschland nicht alleine da. Die gesamte NATO wird Europa verteidigen. Zählt man Reserve und paramilitärische Einheiten zu den aktiven Soldat*innen hinzu, ist die NATO mit 8,7 Millionen Soldat*innen aktuell besser aufgestellt als Russland. Dass die alte Massenwehrpflicht wiederkommen wird, ist deshalb unwahrscheinlich. Pläne zur Änderung des WPflG und des KDVG sind derzeit nicht bekannt. Die Fülle an Wehrdienstausnahmen und das schriftliche Regelverfahren nach dem KDVG mit seiner hohen Anerkennungsquote sind also erst einmal auch für den Spannungs- und Verteidigungsfall sicher.