Hand in Hand mit der direkten Demokratie – Go Health Pro

Zur Rolle von Bürger:innenräten in der Schweiz

Bürger:innenräte sind in der Schweiz ein etabliertes Format – nicht trotz, sondern gerade wegen der direkten Demokratie. Es gibt thematisch ausgerichtete Formate zur Deliberation einer aktuellen politischen Frage wie die „Bürgerpanels für mehr Klimaschutz“ in verschiedenen Gemeinden des Kantons Zürich oder die schweizweiten Gremien wie der Bürger:innenrat für Ernährungspolitik, der Zukunftsrat U24 und der Bevölkerungsrat 2025 zu den steigenden Gesundheitskosten. Zum anderen haben mehrere Städte und Gemeinden unter Einbezug von Forschungsinstituten Bürger:innenräte organisiert, in denen die Teilnehmenden begleitend zu kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Abstimmungsvorlagen an die Stimmberechtigten adressierte Argumentarien formulieren. Es geht dabei um die niederschwellige Information zuhanden der Bevölkerung für eine bevorstehende Volksabstimmung.

Entgegen der Kritik harmonieren die Bürger:innenräte mit den vielfältigen Instrumenten der direkten Demokratie auf allen Staatsebenen. Synergieeffekte gibt es überall, von der Gemeindeversammlung in der großen Mehrheit der über 2000 Gemeinden bis zu Volksinitiativen und Referendumsabstimmungen in den 26 Kantonen und im Bund (im Einzelnen Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser) . Am Ende könnten sie gar das Modell sein, das sich für die Totalrevision der Verfassung am ehesten anbietet.

Repräsentation im Losverfahren als Alleinstellungsmerkmal

Ein Erfolgsfaktor der Bürger:innenräte ist ihr Alleinstellungsmerkmal in der direkten Demokratie: die möglichst effektive Repräsentation der diversen Bevölkerung. Zu diesem Zweck spielen Losverfahren bei der Auswahl der Mitglieder eine wichtige Rolle. So wurden die 100 Teilnehmenden des Bevölkerungsrats 2025 in einem zweistufigen Verfahren per Zufallsauswahl bestimmt. In einem ersten Schritt wurden rund 22000 Personen über 16 Jahren brieflich angeschrieben und zur Teilnahme am Bevölkerungsrat eingeladen. Hierfür gaben die interessierten Personen Informationen über Alter, Bildung und politische Einstellung an. Insgesamt meldeten sich 2004 Personen für die Teilnahme am Bevölkerungsrat. In einem zweiten Schritt wurden mithilfe einer Software der Sortition Foundation 100 Personen ausgelost. Korrigierende Faktoren beeinflussten das Losverfahren, damit das Gremium bezüglich Alter, Geschlecht, Ausbildung und politischer Einstellung möglichst divers zusammengesetzt war. Erste Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung der Formate lassen aufgrund des Losverfahrens auf eine im Vergleich zu direktdemokratischen Willensbildungsverfahren erhöhte Partizipation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen schließen (Heimann/Gut/Kübler, Die Jugend und die Citoyenneté der Zukunft, 2023, https://www.zdaarau.ch/de/publikationen/die-jugend-und-die-citoyennete-der-zukunft/).

Ergänzungsfunktion zu Instrumenten der direkten Demokratie

Bürger:innenräte ergänzen Instrumente der direkten Demokratie sinnvoll (grundlegend Stojanovic). Beide streben mit dem Einbezug der breiten Bevölkerung ein gleichgerichtetes Ziel an. Daher erstaunt es auch nicht, dass die ersten Bürger:innenräte 2019 gleichsam im Windschatten von Volksabstimmungen entstanden sind. Die Mitglieder formulierten in Ergänzung zu den von den Behörden verfassten Abstimmungserläuterungen Bürger:innenbriefe an die Stimmberechtigten. Der Text soll kürzer, besser verständlich und ausgewogener sein als im offiziellen Pendant. Es bestand somit von Anfang an ein enger Zusammenhang zwischen Bürger:innenräten und klassischen Instrumenten der direkten Demokratie wie Volksabstimmungen.

Auch die nicht im Kontext einer bevorstehenden Volksabstimmung durchgeführten Bürger:innenräte, beispielsweise zum Klimaschutz, ergänzen die direkte Demokratie. Besonders greifbar ist dies bei Bürger:innenräten auf der Gemeindeebene. Das Gesetzgebungsorgan in der großen Mehrzahl der Gemeinden in der Schweiz ist die Gemeindeversammlung. Teilnehmen dürfen hier sämtliche Stimmberechtigten. Das sind in der Regel alle volljährigen Schweizer:innen mit Wohnsitz in der Gemeinde. Der Kreis der Stimmberechtigten und der am Losverfahren Teilnahmeberechtigten deckt sich somit vollständig oder zu einem großen Teil. Im Einzelnen hängt die Schnittmenge von den jeweiligen Voraussetzungen wie Alter und Staatsangehörigkeit ab. Die Wirkungsweise eines Bürger:innenrates wird jedenfalls von vornherein stark von der Funktion der Gemeindeversammlung geprägt. Die Gemeindeversammlung ist das oberste Organ und entscheidet, teilweise unter Vorbehalt der Urnenabstimmung durch die Stimmberechtigten, abschließend. Ein Bürger:innenrat hat keine eigenständigen rechtsverbindlichen Befugnisse.

Darüber hinaus treten – auch in Gemeinden mit Parlament – Wechselwirkungen mit den Instrumenten der Volksinitiative und – soweit nach kantonalem oder kommunalem Recht vorhanden – der Volksmotion, der Jugendmotion und der Ausländer:innenmotion (näher dazu Bisaz) ein. Die von einem Bürger:innenrat erarbeiteten Forderungen an die Politik stehen stets in potenzieller Konkurrenz zu anderen Akteur:innen der Zivilgesellschaft, die ihr gleichgerichtetes oder widersprechendes Anliegen mittels einer Volksinitiative in den politischen Prozess einbringen können. Auch in diesem Verhältnis erweisen sich die klassischen Instrumente der direkten Demokratie aus rechtlicher Sicht als „stärker“. Im Wege einer Volksinitiative kann eine organisierte Gruppe von Bürger:innen verbindlich eine Volksabstimmung herbeiführen. Mit einer Motion kann zumindest die Befassung durch das Parlament erzwungen werden. Das verfestigte Resultat eines Bürger:innenrates erreicht aus rechtlicher Sicht hingegen höchstens die Qualität einer Petition. Daher stellt es die klassischen Instrumente nicht in Frage und bleibt somit rechtlich „unbedenklich“. Mittels einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage könnten Bürger:innenräte indes mit einem Motionsrecht ausgestattet werden. Auf diese Weise flössen deren Beratungsergebnisse verbindlich in den Entscheidungsprozess ein. Das verbindliche Motionsrecht der Bürger:innenräte wäre somit aus rechtspolitischer Sicht das folgerichtige Scharnier zur Verkopplung mit der direkten Demokratie.

Ähnlichkeiten mit Institutionen der repräsentativen Demokratie

Bürger:innenräte weisen außerdem funktionale Ähnlichkeiten mit einzelnen Institutionen der repräsentativen Demokratie auf. Hinzuweisen ist auf die von einigen Kantonen im Verfahren der Totalrevision eingesetzten Verfassungsräte. So hat zuletzt im Wallis ein derartiges Gremium eine – in der Volksabstimmung letztlich gescheiterte – neue Kantonsverfassung ausgearbeitet. Zwar haben im Unterschied zu Bürger:innenräten die Stimmberechtigten die Mitglieder gewählt. Jedoch waren zum einen zahlreiche Gewählte parteilos, und zum anderen fanden die thematischen Beratungen, begleitet durch einen Bürgerbeteiligungsprozess auf einer digitalen Plattform und Bürgerworkshops, in einer ähnlichen Form statt, wie dies bei Bürger:innenräten der Fall ist. Auch entscheidet ein Verfassungsrat nicht abschließend, sondern erarbeitet lediglich den Entwurf für einen Verfassungstext, der zwingend in der Volksabstimmung genehmigt werden muss. Parallel zum verfahrensrechtlichen Ansatz des Motionsrechts für Bürger:innenräte wäre ein im Losverfahren bestellter Verfassungsrat mit Blick auf dessen Repräsentationsfunktion ein institutioneller Hybrid, der die Interessen angemessen ausgleicht.

Fehlgehende Kritik

Die rechtspolitische Kritik an den Bürger:innenräten verkennt deren Ergänzungsfunktion für die direkte Demokratie. Es geht gerade nicht darum, das Parlament zu ersetzen. Der Präsident des Schweizerischen Bauernverbandes, Markus Ritter, fragte indes im Nationalrat (Volkskammer des Parlaments): „Sind Bürgerinnen- und Bürgerräte das neue Parlament?“ Der Bundesrat (Regierung) rechtfertigte die Mitfinanzierung durch den Bund mit der Zielsetzung einer Konsultation in Form eines deliberativen Dialogs.

Noch grundsätzlicher kritisierte der Präsident der Schweizerischen Volkspartei (SVP), Marcel Dettling, im Nationalrat „die finanzielle Beteiligung an Schattenparlamenten“. Er verwies dabei ausdrücklich auf die vorhandenen direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten, denen Bürger:innenräte entgegenwirkten. Der Bundesrat hielt dem jedoch entgegen, ein zeitlich beschränkter Dialog von Bürgerinnen und Bürgern zu spezifischen Themen und Sachfragen sei in Anbetracht der fehlenden rechtlichen Entscheidungskompetenzen eine sinnvolle Partizipationsform.

Beide parlamentarischen Vorstöße sind mit der Beantwortung durch den Bundesrat beziehungsweise mit der Ablehnung durch das Ratsplenum erledigt. Mit der zunehmenden Beachtung der Bürger:innenräte in Medien und Öffentlichkeit dürfte die staatspolitische Kritik indes nicht abflauen, sondern im Gegenteil eher anwachsen. Dies könnte insbesondere einmal im Vorfeld einer Volksabstimmung der Fall sein, wenn das Argumentarium eines Bürger:innenrates ins politische Kreuzfeuer geriete. Hierbei ist daher aus verfassungsrechtlicher Sicht besondere Sorgfalt mit Blick auf die Abstimmungsfreiheit anzuwenden. Die Kritik bietet die Chance, den Charakter der Bürger:innenräte als Ergänzung der direkten Demokratie klarer herauszustellen.

Interaktionspotentiale

Bürger:innenräte sind strikt von weiterreichenden Forderungen nach einem Umbau der staatlichen Institutionen zu unterscheiden. Vordergründige Gemeinsamkeiten durch die Bestellung im Losverfahren verwischen mitunter die kategorialen Unterschiede. Nicht mit Bürgerräten über einen Kamm zu scheren ist beispielsweise die von der Fraktion der Grünen im Nationalrat eingebrachte Idee, einen mit verbindlichen Vorschlagsrechten ausgestatteten, durchs Los bestimmten Klimarat zu schaffen. Das gleiche gilt für die noch weitergehende Forderung nach einer dritten Parlamentskammer.

Das Potenzial der Bürger:innenräte liegt in der Interaktion mit den bewährten direktdemokratischen und repräsentativen Entscheidungsverfahren. Hier können innovative Partizipationsformen gegenwärtige Repräsentationsdefizite zumindest in der politischen Deliberation bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Hierzu zählt in erster Linie die prekäre Repräsentativität von Gemeindeversammlungen infolge geringer beziehungsweise selektiver Beteiligung. Insbesondere die strukturell unterrepräsentierten jüngeren Stimmberechtigten können mittels Bürger:innenräten verstärkt Gehör finden. Der fallweisen Mobilisierung partikulär Interessierter wird entgegengewirkt.

Auch die Instrumente der Volksinitiative und des Referendums könnten letztlich von der Existenz der Bürger:innenräte profitieren. Wenn es diesen gelingt, die Argumente im Vorfeld einer Volksabstimmung verständlicher und damit zugänglicher zu machen, liegt dies im Interesse der Repräsentativität von Volksabstimmungen. Auch können sie in diesem Zusammenhang ein gewisses Gegengewicht zur Dominanz der klassischen politischen Akteure wie Parteien und Verbände in der direkten Demokratie bilden. Parteiungebundene Positionen können vermittelt durch Bürger:innenräte sichtbarer in die politische Diskussion eingebracht werden.

Bürger:innenrat als Verfassungsrat?

Die Kombination des Formats des Bürger:innenrates mit einem Verfassungsrat wird bislang noch nicht vertieft. Durch die Zusammenführung könnte sich ein greifbarer Mehrwert ergeben. Zumal der Entwurf eines durch Volkswahl demokratisch legitimierten Verfassungsrates im Kanton Wallis in der Volksabstimmung klar gescheitert ist. Ein neuer Anlauf könnte mit einem im Losverfahren bestellten Verfassungsrat erfolgen. Dieser würde die mutmaßlichen Präferenzen der Stimmberechtigten mit Blick auf die am Ende des Verfahrens zwingend durchzuführende Volksabstimmung möglicherweise besser antizipieren. Auch andere Kantone, die künftig das Projekt der Totalrevision der Kantonsverfassung in Angriff nehmen, könnten mit einem am Modell des Bürger:innenrats orientierten Verfassungsrat experimentieren.

Insbesondere auf Bundesebene dürfte ein nach dem Vorbild der Bürger:innenräte konzipierter Verfassungsrat derzeit die realpolitisch einzige Option für die inhaltliche Anreicherung der Forderung nach einer Totalrevision der Bundesverfassung sein. Nach geltendem Verfassungsrecht kann die Totalrevision lediglich als solche verlangt werden, also ohne inhaltliche Vorgabe für die Zielrichtung der neu zu schaffenden Verfassung (vgl. Art. 138 Bundesverfassung). Noch dazu würde die Annahme der Initiative durch das Volk eine Neuwahl des Parlaments nach sich ziehen. Diese verfahrensrechtliche Ausgestaltung war einer der Hauptgründe dafür, dass kürzlich ein ernstzunehmendes Vorhaben unter dem Titel „Update Schweiz“ aufgegeben werden musste. Ein erfolgversprechender Ansatz bestünde darin, vor dem Beginn des Großprojekts der Totalrevision mittels einer Volksinitiative die Verfahrensregeln in der geltenden Verfassung zu ändern. Der abschließend der Volksabstimmung zu unterstellende Entwurf würde durch einen nach dem Vorbild des Bevölkerungsrates 2025 im Losverfahren bestellten Bürger:innenrat ausgearbeitet. Die Neuwahl des Parlaments entfiele und der Bürger:innenrat könnte inhaltliche Reformen ausarbeiten. Zwar müssten auch ausgeloste Mitglieder stets den Härtetest einer Volksabstimmung im Auge haben, politisch-taktisch motivierte Angriffsflächen des Verfassungsentwurfs würden aber erheblich reduziert. Es besteht berechtigte Hoffnung, dass sich die Diskussionen im Bürger:innenrat und in der Kampagne vor der Volksabstimmung auf Sachfragen konzentrieren. Der Bürger:innenrat als Verfassungsrat trüge somit zur freien Willensbildung und zur unverfälschten Stimmabgabe der Stimmberechtigten bei.

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