Wir stehen elf Tage vor einer Wahl, die über weit mehr als die US-amerikanische Präsidentschaft entscheidet. Über den Wahlkampf zwischen Donald Trump und Kamala Harris wurde schon viel gesagt, deshalb ersparen wir Ihnen hier Wiederholungen. Um es zusammenzufassen: Trump verspricht das rechtsstaatlich verfasste amerikanische politische System in weiten Teilen auszuhöhlen, Millionen von Menschen abzuschieben und schon am ersten Tag seiner Amtszeit eine Diktatur zu errichten. Wir glauben, dass wir ihn ernst nehmen sollten. Harris hingegen hat mehrere moderate politische Versprechen gemacht, vor allem aber hat sie versprochen, nicht das zu tun, was Trump vorhat. Diese Wahl – sowohl des Präsidenten bzw. der Präsidentin, als auch des Kongresses – wird sich auf Millionen Menschen auswirken, in den USA und anderswo.
Deshalb beginnen wir heute unsere Editorial-Reihe zur US-Wahl. Drei unserer Teamkolleg*innen sind derzeit in New York und werden von vor Ort berichten. Wir werden die politischen und juristischen Kernfragen dieser Wahl analysieren. Besonders konzentrieren wir uns auf die zu erwartenden unappetitlichen Kämpfe darum, wer die Wahl denn nun gewonnen hat.
Die Republikanische Partei und verbündete Organisationen wie „True the Vote“, die „Heritage Foundation“ und das besonders gruselige „America First Policy Institute“ haben wahrlich nichts unversucht gelassen, um die Integrität dieser Wahl zu untergraben. Gleichzeitig haben sich zahlreiche demokratische und unparteiische zivilgesellschaftliche Gruppen auf Szenarien vorbereitet, die Wahlbeamt*innen, Gerichte und Wähler*innen schon jetzt betreffen.
Wir werden deshalb mit Menschen sprechen, die sich in Wahllokalen engagieren, um die ordnungsgemäße Auszählung von Wahlzetteln zu sichern, die anwaltliche Arbeit leisten oder versuchen, die Flut an Desinformation einzudämmen. Wir befragen Rechtsexpert*innen und bringen unsere eigene rechtliche Perspektive ein, während in Wahlgremien, vor Gericht und im Kongress gerungen wird – bis zum Schicksalsdatum des 6. Januar 2025. Dann zählt und zertifiziert der Kongress die Stimmen der Wahlleute.
Wo wir stehen
Unser Ausgangspunkt für diese Reihe oszilliert irgendwo zwischen Hoffnung und tiefer (sehr tiefer!) Besorgnis. Trump und Harris liegen in den Umfragen immer näher beieinander; die Wahl steht auf Messers Schneide. Falls Sie davon ausgehen, dass Harris gewinnt: das ist Wunschdenken. Niemand kann zuverlässig vorhersagen, wie die Wahl ausgeht. Die Präsidentschaft hängt von wichtigen Swing States ab: von Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, Arizona, Nevada, Georgia, North Carolina und nicht zuletzt von einem einzelnen Wahlmann aus Omaha, Nebraska. Sollte Harris im Norden gewinnen, aber im Süden verlieren, könnte genau dieser eine Wahlmann aus Nebraska die entscheidende Stimme sein, die Harris auf die notwendigen 270 Wahlstimmen bringt.
Diese Wahl ist nicht nur für die US-amerikanische Demokratie richtungsweisend. Sie zeigt, wie sich das Räderwerk eines Verfassungssystems – seine Werkzeuge, Regeln, Institutionen und Amtsträger*innen – umbauen lässt, um die Demokratie gegen sich selbst zu richten.
Die amerikanische Demokratie hatte, wie die meisten anderen Demokratien auch, immer mit gewissen Defiziten zu kämpfen – kein System ist perfekt, erst recht keines, das fast 250 Jahre alt ist. Viele dieser Defizite gehen auf politische Kompromisse zurück, die zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten geschlossen werden mussten – etwa das Electoral College, die Stimmengleichheit im Senat von bevölkerungsreichen Staaten wie Kalifornien und dünn besiedelten Staaten wie Nebraska oder die zentrale Rolle der Bundesstaaten bei Regulierung und Durchführung bundesweiter Wahlen. Heute profitieren nicht nur hauptsächlich weiße, ländliche Wähler*innen von diesem System (und damit ironischerweise genau jene, die gerne behaupten, das System werde zu ihren Ungunsten manipuliert). In dieser institutionellen Architektur stecken auch jene strukturellen Schwächen, die es Trump ermöglichen könnten, die Wahl zu „stehlen“.
Ein Schritt zurück
Gehen wir zunächst einen Schritt zurück. Wer die Wahlen und das in den kommenden Wochen absehbare Chaos verstehen will, sollte eine der wichtigsten – und möglicherweise problematischsten – Eigenarten der US-Demokratie kennen: das Electoral College. Ohne das Electoral College wäre das Chaos vielleicht ein anderes, jedenfalls lassen sich viele der aktuellen Probleme auf dieses System zurückführen. Das Electoral College unterscheidet sich von fast allen anderen personalisierten Wahlen dadurch, dass der Präsident – bzw. die Präsidentin – nicht direkt vom Volk gewählt wird, sondern von 538 Wahlleuten (electors). Das lässt sich historisch erklären, wird jedoch zunehmend unhaltbar: Jeder Staat erhält proportional zu seiner Bevölkerung eine Anzahl von Wahlleuten. Dem Kandidat oder der Kandidatin, die die Wahl in einem Bundesstaat gewinnt, werden sämtliche Wahlleute zugesprochen (Winner Takes All) – egal wie knapp der Sieg war. So gewannen Kandidaten wie George W. Bush im Jahr 2000 und Donald Trump im Jahr 2016 die Präsidentschaft, obwohl sie das sogenannte Popular Vote, also die Gesamtzahl der Stimmen im Bundesgebiet, um Millionen von Stimmen verloren hatten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich das zugunsten von Trump wiederholt, wenn Harris eines der knappen Rennen in Pennsylvania, Michigan oder Wisconsin verliert.
Obwohl offensichtlich ist, dass das Electoral College Wähler*innenstimmen entwerten kann, scheint die US-amerikanische politische Landschaft diese demokratischen Defizite weitgehend zu akzeptieren. Das mag angesichts der geringen Chancen auf eine Wahlrechtsreform verständlich scheinen. Doch dass solche strukturellen Mängel nicht einmal diskutiert werden, verweist auf ein tiefer liegendes Problem im gegenwärtigen politischen Diskurs der USA. In acht der letzten 24 Jahre haben Präsidenten regiert, immer Republikaner, die die Mehrheit der Wähler*innenschaft ablehnte. So werden auf Dauer undemokratische Nebeneffekte normalisiert.
Da ist es bemerkenswert, dass nicht die Demokraten, sondern ausgerechnet die Republikaner das System als „manipuliert“ kritisieren. Doch das Schweigen der Demokraten zu derlei systemisch-strukturellen Defiziten ließ eine gähnende Leerstelle in der Selbstwahrnehmung des politischen Gemeinwesens. Diese Leerstelle hätte mit grundlegender Kritik progressiver – oder wir würden behaupten ebenso zentristischer und konservativer – Stimmen am Wahlsystem gefüllt werden können. Wurde sie aber nicht. Stattdessen konnten die Republikaner einen offenbar weit verbreiteten Ärger und Misstrauen gegenüber dem System aufgreifen und mit Wahlleugnung, Xenophobie, und Misogynie anheizen.
Für uns – hier sind wir vielleicht idealistisch, jedenfalls unerfahren – sieht manches, was hier oftmals als progressiver politischer Realismus durchgeht, oft wie Zynismus aus, wie ein Abschied von großen Versprechen und Idealen. Währenddessen wächst und gedeiht die weit von traditionellem Konservatismus entfernte Rechte, mit ihren großen Erzählungen und grundlegenden Kritiken an einem in der Tat fehlerhaften System. Das zeigt, wie dringend diese demokratischen Defizite angegangen werden müssen – nicht nur als kleinteilige technische Probleme, sondern als Teil eines größeren Kampfes um die Werte, die die US-Demokratie leiten sollten.
Die Macht der Bundesstaaten
Doch das ist nicht das einzige Problem. Das Electoral College verzerrt nicht nur den Willen der Mehrheit, sondern resultiert auch in einer enormen Regionalisierung bundesstaatlicher Vorgänge. Dieser Regionalisierung werden wir uns in den kommenden Wochen genauer widmen. Doch schon jetzt lohnen sich ein paar Ausführungen dazu, welche Rolle das Electoral College dabei spielt und warum diese Regionalisierung so störanfällig ist. Ob Harris oder Trump im Weißen Haus landen, hängt letztlich von einer Handvoll Staaten ab. Innerhalb dieser Staaten wird das Ergebnis oft von einigen wenigen Wahlbezirken entschieden, und innerhalb dieser Bezirke von einer kleinen Anzahl von Auszählungslokalen und Verwaltungsbüros, in denen wenige Dutzend oder vielleicht ein paar Hundert Wahlhelfer*innen arbeiten.
Diese hochgradige Regionalisierung der nationalen Wahlen bedeutet, dass die Stimmen von sehr wenigen Menschen an sehr spezifischen Orten die Richtung des gesamten Landes bestimmen können.
Die wenigsten dieser lokalen Institutionen sind darauf ausgelegt, dem Druck einer landesweiten Überprüfung und gezielter politischer Einflussnahme standzuhalten – geschweige denn der Art strategischer Angriffe, die die Republikanische Partei und ihre Verbündeten seit 2020 unternommen haben.
Stellen Sie sich Ihr Auszählungslokal vor. Wahrscheinlich könnten Sie nicht einmal sagen, wo sich dieses befindet – wir jedenfalls wissen es nicht. Normalerweise werden dort völlig alltägliche, unauffällige Routineaufgaben erledigt: Wählen, Zählen, Tabellieren, ein Excel-Dokument ausfüllen und Ergebnisse melden. Doch wenn ein ganzer politischer Apparat all seine Ressourcen auf nur eine Handvoll lokaler Wahlhelfer*innen konzentriert und versucht, deren Arbeit zu behindern, können die lokalen Kapazitäten schnell zusammenbrechen.
Sieg durch Obstruktion?
Außerdem lässt sich das Electoral College wunderbar obstruieren. Das hat teilweise schlicht mit den maßgeblichen Orten zu tun – es ist einfacher, ein paar wenige Auszählungslokale in Pennsylvania, Georgia und Michigan zu beeinflussen, als alle Zentren im Land zu manipulieren. Es hat aber auch damit zu tun, dass das Electoral College weitere Verfahrensschritte erfordert, die missbrauchsanfällig sind.
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Im Dezember eines jeden Wahljahres kommen die Wahlleute in ihren jeweiligen Landeshauptstädten zusammen, um ihre Stimmen abzugeben, die dann nach Washington D.C. gesendet werden – einst in Kutschen, und heute (so stellen wir uns das vor) in gepanzerten Fahrzeugen. In der ersten Januarwoche werden diese Stimmen vom Repräsentantenhaus gezählt und bestätigt. Genau an diesem Tag im Jahr 2021 hat Donald Trump den Sturm auf das Kapitol orchestriert, um den Auszählungsprozess und die friedliche Machtübergabe an Joe Biden zu verhindern. Diese Zeremonie – die Zählung und Zertifizierung der Stimmen der Wahlleute – ist wieder für den 6. Januar 2025 angesetzt. Der Kampf um die Zukunft Amerikas geht also erst richtig los, wenn die Wahllokale schließen.
Insbesondere bei der Auszählung eröffnen sich für die Republikaner einige Einfallstore, um den Wahlprozess zu obstruieren. Den Republikanern nahestehende Akteure könnten versuchen, die Auswahl der Wahlleute und andere sonst routinemäßige Verfahren zu politisieren. Sollte es etwa bei der Wahl und der Stimmenauszählung in einem Bundesstaat zu Chaos kommen, könnten lokale Beamt*innen entweder daran scheitern – oder gar absichtlich verweigern – alle Stimmen auszuzählen. Trotz Reformen auf Bundesebene im Jahr 2022 ist immer noch unklar, wer in einem solchen Szenario wie darüber bestimmt, ob ein Bundesstaat legitim die Stimmen seiner Wahlleute abgeben kann. Werden sie nicht abgegeben, lässt das Millionen von Wähler*innenstimmen unberücksichtigt; werden die Wahlleutestimmen hingegen abgegeben, ohne dass das tatsächliche Auszählungsergebnis bekannt ist (das erst Monate später festgestellt wird), kann das ähnlichen Schaden anrichten.
Wahrscheinlich werden diese Streitigkeiten vor Gericht landen, erst bei den Obersten Gerichtshöfen der Bundesstaaten und schließlich beim U.S. Supreme Court. Die Integrität der US-amerikanischen Wahl würde damit im rechtlichen Limbo feststecken, auf unabsehbare Zeit.
Die Trump-Kampagne wird wohl versuchen, gezielt Proteste und Unruhen vor Auszählungslokalen anzustacheln, um die dortigen Wahlhelfer*innen einzuschüchtern, Chaos zu stiften und den Wahlprozess zu stören. Schon jetzt erodiert die Flut an Desinformationen über vermeintlichen Wahlbetrug das ohnehin schwindende Vertrauen in die Integrität des Wahlvorgangs, auf das eine liberale Demokratie angewiesen ist. Die Medien werden eine entscheidende Rolle dabei spielen, die visuellen und narrativen Erwartungen der Öffentlichkeit zu den Wahlausgängen zu prägen, was dazu beitragen kann, weiter Skepsis und Angst vor Wahlmanipulation zu schüren – oder umgekehrt.
Besorgniserregend ist, dass die Republikaner nicht einmal die Endergebnisse in den Swing States ‚flippen‘ müssen, um Erfolg zu haben. Angesichts der so starken Dezentralisierung der US-Wahlen reicht es schon, schlicht für Chaos zu sorgen. Dann könnten die Gouverneur*innen und die Legislative der Bundesstaaten – ähnlich wie der Supreme Court in Bush v. Gore – sagen: ‚Das ist zu chaotisch, keine weiteren Nachzählungen.‘ Im schlimmsten Fall verwirklicht sich dann eine Idee, die bereits 2020 zirkulierte und inzwischen geltendes Recht in North Carolina ist, einem entscheidenden Swing State. Danach könnten die bundesstaatlichen Parlamente, die in einigen Swing States republikanisch dominiert sind, bei hinreichenden Zweifeln an der Legitimität der Wahl einfach selbst Wahlleute ernennen. Wie realistisch das ist, bleibt abzuwarten, denn es würde wahrscheinlich auch alle anderen Wahlen (nämlich des Repräsentantenhauses und Senats) in diesem Bundesstaat beeinflussen. Jedenfalls würde es den Wahlprozess erheblich erschüttern.
Vertrauen und Zivilität
Es stehen also nicht nur einzelne politische Errungenschaften, wie reproduktiven Rechten, eine nicht völlig milliardärszentrierte Steuerpolitik und die Unterstützung der Ukraine auf dem Spiel, sondern der demokratische Prozess an sich. Damit dieser funktioniert, ist ein Mindestmaß an Vertrauen und Zivilität allerdings unverzichtbar.
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So fehlerhaft Amerikas Wahlinstitutionen auch sein mögen, der Bestand demokratischer Institutionen und Prozesse hängt letztlich von Vertrauen ab – Vertrauen in Institutionen, Vertrauen in die Medien und auch Vertrauen ineinander. Derzeit ist das Vertrauen in den USA in praktisch jeder Hinsicht auf einem historischen Tiefstand. Im Fernsehen hören die Amerikaner*innen, dass die Wahl 2020 gestohlen worden und der Klimawandel ein Mythos sei. Viele sagen, sie kennen – wenn überhaupt – nur wenige Menschen „von der anderen Seite“. Und sie sind sich einig, dass Teile der Bundesregierung inkompetent und unzuverlässig seien, insbesondere wenn die gegnerische Partei an der Macht ist.
Die Demokratie ist auch auf ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt und Zivilität angewiesen. Ein deliberatives System kann langfristig nur funktionieren, wenn ein einigermaßen versöhnlicher Ton herrscht, das Wahlergebnis respektiert und Gewalt abgelehnt wird. Dennoch gab es bereits zwei versuchte Attentate auf Trump – der wiederum sofort die demokratische Rhetorik beschuldigte, statt zu hinterfragen, inwiefern er selbst öffentlich Wut und Ängste schürt.
Vertrauen und Zivilität erodieren, wenn eine Seite beginnt, in der anderen eine existenzielle Bedrohung für die Zukunft des Landes zu sehen. Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Trump und seine Unterstützer*innen haben die bisher unverfrorensten Angriffe auf demokratische Institutionen zu verantworten, die in dem versuchten Putsch vor fast vier Jahren gipfelten. Doch mit dem Finger auf andere zu zeigen wird das Problem nicht lösen.
Trotz allem gibt es inmitten dieser demokratieexistenziellen Kämpfe auch Hoffnung. Nicht alle zweifeln die Wahlergebnisse an oder planen, reproduktive Rechte, einen Großteil der Bundesbehörden oder gleich die komplette Demokratie abzuschaffen. Ganz im Gegenteil. Hunderttausende von US-Amerikaner*innen arbeiten unermüdlich daran, Demokratie zu verwirklichen, jeden Tag. Sie verlassen ihre Häuser und Jobs, manchmal für Tage oder Wochen, um in Swing States auszuhelfen. In den letzten Jahren ist ein riesiges Netzwerk von Expert*innen, Freiwilligen, Anwält*innen und Organisationen entstanden – eine Art ziviler Verfassungsschutz, der den demokratischen Prozess schützen will.
Inmitten all dieser düsteren Szenarien werden wir auch diese Geschichten erzählen. Denn Demokratie heißt letztlich Regierung durch das Volk, für das Volk. Und wenn die Demokratie – nicht nur in den USA, sondern weltweit – unter Druck gerät, liegt es an den Bürger*innen, an uns allen, zu handeln.
Wir schauen besorgt, aber auch hoffnungsvoll auf die ereignisreichen Wochen, die vor uns liegen.
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Editor’s Pick
von ISABELLA RISINI
Meine Empfehlung in dieser Woche ist Giuseppe Martinicios „Filtering Populist Claims to Fight Populism – The Italian Case in a Comparative Perspective“.
Das Buch befasst sich mit den Mechanismen des Populismus, die in Italien seit geraumer Zeit das Getriebe der Demokratie zersetzen. Das Besondere an diesem Buch ist, dass es einer der (zu) wenigen ernsthaften Versuche ist, sich mit dem Phänomen des Populismus auseinanderzusetzen, der in ganz Europa und anderswo Wurzeln geschlagen hat.
Populismus lehnt konstitutionelle Ideen und Modelle nicht ab. Vielmehr manipuliert und nutzt Populismus die Instrumente und Institutionen einer Verfassung. Martinicio veranschaulicht diese Subversion, sowie die dringende Notwendigkeit, sich mit den Wellen des Populismus auseinanderzusetzen. Er bietet Instrumente, um populistische Agenden sichtbar zu machen.
Dieses Buch richtet sich an Leser, die sich für zeitgenössische politische und verfassungsrechtliche Fragen in Italien interessieren. Es richtet sich auch an diejenigen, die sich einen Überblick über die Auswirkungen des Populismus auf das Verfassungsrecht in Italien und anderswo verschaffen wollen. Ein Hauptgrund für mich, mich mit diesem Buch zu befassen, ist die Tatsache, dass die Entwicklungen in Italien weithin und massiv unterschätzt werden, und zwar sowohl in Italien als auch im übrigen Europa.
Giuseppe Martinicio, Filtering Populist Claims to Fight Populism -The Italian Case in a Comparative Perspective, CUP, 2022, 216 p.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER
Diesen Samstag, am 26. Oktober, wählt Georgien. Schon im Frühling schaute die Welt auf das kleine Land im Kaukasus, als die Regierung das sogenannte Agentengesetz durchbringen und damit zivilgesellschaftliche Organisationen autoritär drangsalieren wollte. NIKOLAUS VON BERNUTH (DE) sieht Georgien am Scheideweg – zwischen Kreml und EU, Autoritarismus und Demokratie. Ob die Opposition es schaffe, ihre Differenzen hintanzustellen und sich auf den Erhalt der Demokratie zu besinnen, sei offen.
Jedenfalls Deutschland sorgt sich um den Demokratieerhalt. Die letzten Monate wurde unter dem Stichwort „Resilienz“ allseits diskutiert, wie sich das BVerfG am besten wetterfest machen ließe (auch bei uns auf dem Blog). Nun hat der Deutsche Bundestag erstmals konkrete Gesetzesentwürfe dazu beraten. MATTHIAS KLATT und MAX WEBER (DE) halten die geplante Grundgesetzänderung an wichtiger Stelle für zu unbestimmt und zeigen, was zu beheben wäre. Auch LUKE DIMITRIOS SPIEKER (DE) erkennt Lücken; wichtige Schutzelemente im BVerfGG blieben dem Zugriff einer einfachen Mehrheit im Bundestag ausgesetzt. Er plädiert deshalb für eine Zustimmungspflicht des Bundesrates bei Änderungen des BVerfGG.
In Deutschland gilt zwar die Schulpflicht, aber nicht für alle gleich: Kinder geflüchteter Menschen kommen oft erst später in die Schule und verlieren so wertvolle Zeit. KAJO KRAMP, JOHANNA KUNZI, LAURA VALDIVIA und MORTIZ DRESCHER (DE) machen sich auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ und stellen eine Ungleichbehandlung gegenüber den anderen schulpflichtigen Kindern fest, die unzulässig in das „Recht auf schulische Bildung“ geflüchteter Kinder eingreife.
Um den Schutz geflüchteter Kinder geht es auch auf EU-Ebene. Im Sommer wurden neue Regelungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem beschlossen, die ab 2026 gelten. Im Kern geht es wieder einmal um die ewige Zuständigkeitsfrage: Wer bearbeitet den Asylantrag? Nicht alles soll dabei an den überlasteten Erstregistrierungsstaaten an den europäischen Außengrenzen hängen bleiben – erst recht nicht, wenn es unbegleitete Minderjährige betrifft. ROBERT NESTLER und NEREA GONZÁLEZ MÉNDEZ DE VIGO (DE) erklären, welche Anforderungen die kinderrechtlichen Garantien der EU-Grundrechtecharta an ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für unbegleitete Minderjährige stellen.
Nur scheinen sich leider immer weniger EU-Staaten noch dafür zu interessieren, was nach dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem überhaupt zulässig ist. So stellte die neue dänische Regierung Mitte September ihre Pläne vor, wie sie die strengsten Asylregeln in Europa durchsetzen will. SALVO NICOLOSI (EN) testet, wo die niederländischen Pläne mit Dänemarks europa- und völkerrechtlichen Pflichten kollidieren. Doch auch nationales Recht könnte die Pläne durchkreuzen. Die niederländische Regierung beruft sich zwar auf eine Ausnahmeregelung aus dem Niederländischen Ausländergesetz von 2000. Doch laut VIOLA BEX-REIMERT und GIEL HEERINGA (EN) sei diese Ausnahmeregelung hier nicht anwendbar.
Aus den Niederlanden gab es diese Woche noch Nachrichten in anderer Sache: Nachdem der Guardian und das israelisch-palästinensische Portals 972 im Mai berichtet hatten, dass Israel den Internationalen Strafgerichtshof ausspioniert habe, forderten nun 20 Beschwerdeführer:innen die niederländische Staatsanwaltschaft auf, diese Vorgänge zu untersuchen. SERGEY VASILIEV (EN) hält die Strafanzeige sowohl für angebracht als auch für aussichtsreich.
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An der Universität Kassel, Fachgebiet Öffentliches Recht, IT-Recht und Umweltrecht (Prof. Dr. Gerrit Hornung), ist zum 1.1.2025 – vorbehaltlich der Mittelbewilligung – folgende Stelle zu besetzen:
Wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in (m/w/d), EG 13 TV-H, befristet (zunächst bis zum 31.12.2028), Vollzeit (derzeit 40 Wochenstunden)
Zur Mitarbeit in einem Forschungsprojekt zu den Rechtsfragen des Einsatzes von KI zur Verbesserung der Radverkehrssicherheit
Den Ausschreibungstext finden Sie hier.
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Italien war dieser Tage vor allem wegen des missglückten Albanien-Deals in den Nachrichten (den Meloni nun aller rechtsstaatlicher Urteile zum Trotz per Dekret durchsetzen möchte, komme was wolle). Angesichts dessen scheint es weise, auch die italienischen Institutionen resilient zu machen – etwa den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Diesen verpflichtet schon das Europäische Medienfreiheitsgesetz zur Entpolitisierung, was den Sender RAI vor einige Herausforderungen stellt. Dessen „parlamentarisiertes“ Regulierungsmodell berge das Risiko politischer Vereinnahmung in einem politisch geladenen Umfeld, warnt YLENIA MARIA CITINO (EN).
Verfassungskrisen, so weit das Auge reicht: Nun hat in Pakistan die (womöglich illegitim an die Macht gekommene) Regierungskoalition in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Verfassung geändert, vor allem, um die Justiz umzubauen. MOEEN CHEEMA und MARVA KHAN CHEEMA (EN) geben eine erste Einschätzung, was die Verfassungsänderung bedeutet.
Diese Woche haben wir das gemeinsam mit dem africanlegalstudies.blog organisierte Symposium „Unmasking the Intractable: Exploring Anti-Racism and the Law“ (EN) abgeschlossen. JEAN-ARISTID BANYURWAHE argumentiert, dass die verfassungsrechtliche „Schuldenbremse“ dazu führe, dass Deutschland seine Pflichten gegenüber Entwicklungsländern, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, nicht erfüllen könne. SERAWIT DEBELE denkt (am Beispiel eines queeren Geflüchteten) über die Grenzen rechtlichen Schutzes nach, wenn dieser Schutz nicht von gesellschaftlichem Wandel begleitet wird. MARIE-LOUISE REUTER untersucht Intersektionalität als Konzept, um effektiv gegen rassistische Diskriminierung vorzugehen. MEHRDAD PAYANDEH sieht in der UN-Antirassismuskonvention ein vielversprechendes rechtliches Instrument, um (strukturelle) rassistischer Diskriminierung zu bekämpfen; bedauert jedoch, dass die Konvention kaum angewendet werde, weil sie kaum bekannt sei und für die Umsetzung sowohl Ressourcen als auch der politische Willen fehlten. SHREYA ATREY erklärt, warum das Offshore-Verfahren für Asylanträge tatsächlich rassistisch sei. FAREDA BANDA betrachtet Sanktionen in Rhodesien aus einer persönlichen historischen Perspektive. THOKO KAIME and BONOLO RAMADI DINOKOPILA schließen das Symposium mit einem Plädoyer, warum völkerrechtliche Lehre antirassistisch sein sollte.
Und eine kleine Vorschau zum Schluss: Nächste Woche geht es los mit unserem Symposium zu „Europe’s Geopolitical Coming of Age: Adapting Law and Governance to Harsh International Realities“ (EN). Das Symposium untersucht, wie sich das europäische Sicherheits- und Verteidigungsrecht als Reaktion auf Russlands Invasion in der Ukraine transformiert hat. Im Fokus steht, wie dieser Wandel zentrale Bereiche neu gestaltet, etwa Justiz, Verteidigungszusammenarbeit, Migration, Klimasicherheit und Desinformation.
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Das wäre es für diese Woche! Ihnen alles Gute
Ihr
Verfassungsblog-Team
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