Betreutes Regieren – Verfassungsblog – Go Health Pro

Prädiktive Gutachten des Bundesverfassungsgerichts als Wunsch der Politik

Schon bevor das bayerische Schloss Elmau in den Jahren 2015 und 2022 zum Ausrichtungsort von G7-Treffen wurde, hatte es verstanden, Raum für den intellektuellen Austausch zu bieten. Nicht nur fanden hier wichtige Debatten statt – man erinnere sich nur an die Sloterdijk-Kontroverse im Jahr 1999 –, sondern scheint das Diskutieren mit Blick auf das Wettersteingebirge auch dazu anzuregen, sich manch einem Problem grundsätzlicher anzunehmen. Das hochkarätig besetzte viertägige Symposion unter dem Titel „Demokratie in Zeiten der Krise“ (5.–8. Dezember 2024) schreckte vielleicht auch deshalb nicht vor großen Themen zurück. Unter der Überschrift „Demokratie und Rechtsstaat“ diskutierten im einführenden Panel, moderiert von Andreas Voßkuhle, zunächst der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth und Bundeskanzleramtsminister Wolfgang Schmidt. Entfalten sollte sich eine Diskussion über das Ampel-Aus, den Umgang der Politik mit verfassungsrechtlicher Ungewissheit und den Vorschlag, das Bundesverfassungsgericht wieder als Gutachter in diffizilen Verfassungsfragen einzusetzen. Eine auf den ersten Blick sympathisch klingende Idee, die gleichwohl mit Vorsicht zu genießen ist, drohen doch Politisierung und falsch verstandene Gewaltenverschränkung.

Ampel-Aus aufgrund verfassungsrechtlicher Ungewissheit?

In seinem Eingangsvortrag „Demokratie und Rechtsstaat – die Perspektive der Praxis“ steuerte Kanzleramtsminister Schmidt im Elmauer Konzertsaal gleich zu Beginn auf das Ampel-Aus zu. Seine Ausführungen hierzu sollten überraschen. Warf Kanzler Olaf Scholz seinem ehemaligen Finanzminister Christian Lindner noch Verantwortungslosigkeit und Vertrauensbruch vor, äußerte Kanzleramtsminister Schmidt großes Verständnis für die Liberalen. Sie wären es gewesen, die oft allein gegen zwei gestanden und „in der Regierung gelitten“ hätten. Ähnlich verständnisvoll blickte er auf die letztlich scheiternden Verhandlungen zum Bundeshaushalt 2024 zurück. Die Koalitionspartner seien in einem politischen Dilemma gefangen gewesen, das auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Schuldenbremse im Jahr 2023 zurückzuführen gewesen sei. In diesem habe das Gericht zwar „juristische Leitplanken“ für den Bundeshaushalt aufgezeigt, dem Gesetzgeber zugleich aber auch reichlich Interpretationsspielraum gelassen. Interpretationsspielraum, der es der Ampel-Koalition im Herbst 2024 schwierig machte zu prognostizieren, inwiefern ein abermaliger Überschreitensbeschluss gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG aufgrund des russischen Angriffskriegs verfassungsgemäß gewesen wäre.

Das Ergebnis ist nicht nur dem Kanzleramtsminister bekannt: Die Koalitionäre konnten sich beim Haushalt und den Ausgaben für die Ukraine weder auf einen Überschreitensbeschluss noch auf die von der FDP gemachten Kürzungsvorschläge im Resthaushalt einigen. Die hierfür mitverantwortliche, nach außen aber nur spärlich kommunizierte verfassungsrechtliche Ungewissheit wich in den folgenden Tagen und Wochen parteipolitischen Anschuldigungen.

BVerfG als Steigbügelhalter für Regierungsstabilität

Wie also umgehen mit in Gesetzen angelegten verfassungsrechtlichen Ungewissheiten, für deren Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht bereits ein Viertel der Mitglieder des Bundestags genügen?

Als Antwort auf diese Frage brachte Kanzleramtsminister Schmidt § 97 BVerfGG1) in seiner Fassung von 1951-1956 ins Gespräch, der eine prädiktive Gutachterrolle für das Bundesverfassungsgericht zu Fragen des Verfassungsrechts vorsah. Entsprechende politische Dilemmata – wie im Rahmen des Bundeshaushalts – könnten so zukünftig durch das Bundesverfassungsgericht abgeschwächt oder gar aufgelöst werden.

Im Einzelnen sah die Bestimmung vor, dass entweder der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung in einem gemeinsamen Antrag (Abs. 1 aF) oder der Bundespräsident alleine (Abs. 2 aF) das Plenum des Bundesverfassungsgerichts ersuchen konnten, ein Rechtsgutachten über eine bestimmte (grundsätzliche) verfassungsrechtliche Frage zu erstatten. Anders als im Rahmen einer präventiven Normenkontrolle, bei der etwa das Bundesverfassungsgericht eine verkündete aber noch nicht in Kraft getretene Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft (BVerfGE 1, 396, Rn. 52), setzt eine solche prädiktive Gutachterrolle (lat. praedicere ‚vorausbestimmen‘) zu einem Zeitpunkt an, in dem das Parlament mit dem Gesetzesvorhaben noch weitestgehend unbefasst ist, jedenfalls den Rechtsakt noch nicht beschlossen hat. Ziel ist es so, sich auf Antrag potenzielle verfassungsrechtliche Probleme und Grenzen durch das Gericht aufzeigen zu lassen, die in einem später initiierten Gesetzgebungsverfahren beachtet werden müssen. Zu einem solchen Gutachten durch das Bundesverfassungsgericht kam es zweimal: 1951 erstellte das Gericht ein Gutachten über die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates zum Gesetz über die Verwaltung der Einkommen- und Körperschaftsteuer, 1954 über die Zuständigkeit des Bundes zum Erlass eines Baugesetzes. Eine dritte Anfrage über ein Gutachten u.a. zur Vereinbarkeit des Vertrages über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit dem Grundgesetz wurde 1952 vom Bundespräsidenten wieder zurückgezogen, nachdem das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht hatte, dass entsprechende Gutachten der richterlichen Funktion „wesensfremd“ seien und beide Senate bezüglich weiterer anhängiger Verfahren binden würden (BVerfGE 2, 79, Rn. 29/41). Versuche der Regierung in Folge klarzustellen, dass Gutachten im Sinne von § 97 BVerfGG keine bindende bzw. präjudizierende Wirkung zukommt, scheiterten (BT-Drs. 1/1662). Stattdessen schlug der Rechtsausschuss des Bundestages wenig später vor, „in Übereinstimmung mit einer Stellungnahme des Plenums des BVerfG“ die Regelung zu streichen. Die eigentliche Aufgabe der Justiz sei schließlich die Entscheidung von Streitfällen und nicht die Erstattung „mehr oder weniger unverbindlicher Gutachten“ (BT-Drs. 2/2388).

Im Bewusstsein dieser Bedenken, aber auch der damaligen Unterschiede zu anderen nationalen Höchstgerichten,2) untermauerte Schmidt seinen Vorstoß vor allem mit zwei Argumenten. So betonte er, wie auch schon die damaligen Gegner der Abschaffung des Gutachtenverfahrens, dass eine verfassungsgerichtliche Prädiktion für mehr politische Stabilität und weniger Verfassungsungewissheit sorgen könne. Der Gesetzgeber und die Regierung liefen nach einem solchen Gutachten schließlich weniger stark Gefahr, verfassungswidriges Recht zu erlassen und seien somit auch weniger Ungewissheiten ausgesetzt, wenn sie eine Verfassungsnorm anwenden müssten, zu der es wenig bis gar keine verfassungsgerichtliche Judikatur gebe. Ein Argument, das insbesondere für die Schuldenbremse greife, die über mehr als zehn Jahre keine Rolle vor dem Verfassungsgericht gespielt habe.

Nicht zuletzt sei durch verfassungsgerichtliche Prädiktion die Gefahr geringer, langwierige Gesetzgebungsvorhaben erneut zu durchlaufen. Die Rückabwicklung des verfassungswidrigen zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 sei hierfür ein Lehrstück, wäre diese doch für das Finanzministerium mit „gigantischem“ (Mehr-)Aufwand einhergegangen.

Möglicherweise ließ sich Schmidt als ehemaliger hamburgischer Staatsrat jedoch auch von Art. 65 Abs. 3 Nr. 1 HmbVerf inspirieren. Die hierin verankerte Verfahrensart vor dem Landesverfassungsgericht erlaubt es schließlich, gerade ohne unmittelbaren Anwendungsbezug, den Inhalt der Hamburger Verfassung verbindlich feststellen zu lassen.3)

Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit

Doch wäre mit der Wiedereinführung verfassungsgerichtlicher Prädiktion in Summe wirklich mehr gewonnen als an anderer Stelle verloren? Stephan Harbarths Antwort bezüglich Schmidts Vorschlag fiel an diesem Abend jedenfalls klar aus. Mit Verweis auf die Bedeutung eines von den Fachgerichten aufgearbeiteten Falls für das Bundesverfassungsgerichts plädierte er gegen die Wiedereinführung einer solchen Gutachterlösung. Vielmehr sprach er eine Ermunterung an Schmidt und die Politik aus: „Geben sie uns hin und wieder Fälle. Das ist, glaube ich, das Zusammenspiel der verschiedenen Verfassungsorgane: Sie haben Gesetze vorzubereiten in der Regierung, das Parlament hat die Gesetze zu verabschieden und das Gericht hat dann im Rückblick und auch in Anschau konkreten Fallmaterials über diese Gesetze zu entscheiden“.

Die Tatsache, dass im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle keine Fachgerichte zwischengeschaltet sind, sondern die Überprüfung von einfachen Gesetzen – etwa zum Bundeshaushalt – vor allem davon abhängt, ob das notwendige Bundestagsquorum zustande kommt, ließ er wenngleich außen vor. Harbarths Gegenargument eines aufbereiteten Falls für das Gericht mag insofern dann verfangen, wenn etwa die Auslegung von Grundgesetzartikeln oder die Beurteilung von Verfassungsbeschwerden in Rede stehen. Letztlich enthält jedoch selbst hier § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG restriktiv angewendete Ausnahmeregelungen, die auf ein Durchlaufen des Instanzenzuges verzichten, wenn eine Beschwerde bspw. von „allgemeiner Bedeutung“ (Alt. 1) ist. Eine fehlende vorinstanzliche Aufbereitung gegen eine mögliche Gutachterrolle des Bundesverfassungsgerichts ins Feld zu führen, überzeugt daher nur bedingt. Möglicherweise wäre es hier treffender gewesen, auf die Bedeutung der Gesetzesmaterialien für die Auslegung seitens des Gerichts zu verweisen.

Demgegenüber nachvollziehbar äußerte Harbarth jedoch auch die Sorge, dass ein solches vorgeschaltetes Gutachterverfahren die Rechtsprechung des Gerichts „sehr stark an den grünen Tisch“ manövriere, an dem die Ergebnisse der Gutachten oftmals nur rein theoretisch und mit wenig Zeit verhandelt werden könnten. Ein seriöses verfassungsgerichtliches Verfahren sei dann nicht mehr durchführbar. In Folge drohe ein Akzeptanzverlust von Gericht und Politik in der Bevölkerung. Als schlagendes Argument gegen eine Wiedereinführung der Gutachterrolle des Bundesverfassungsgerichts hätte indes auch die Gewaltenteilung stärker ins Feld geführt werden können (vgl. BVerfGE 1, 396, Rn. 51: „[würde] die Stellung des Gerichts gegenüber der gesetzgebenden Gewalt bedenklich überbetonen“). Würde das Bundesverfassungsgericht schließlich zum Teil des Gesetzgebungsprozesses, indem es potenziell darüber (mit-)entscheidet, ob oder wie Gesetzgebungsvorhaben durch die Politik verfolgt werden, käme dies einem ungemeinen Machtzuwachs des Gerichts gleich (vgl. Art. 76 Abs. 1 GG). Wer nun jubiliert und hierin eine Form voranschreitender Gewaltenverschränkung sieht, nimmt auf der anderen Seite deshalb auch eine zunehmende Politisierung des Gerichts in Kauf. Nicht unwahrscheinlich auch, dass die in Deutschland zuletzt wieder aufkommende Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit als Treiber eines Jurisdiktionsstaat befeuert wäre.

Legistik und Gesetzesprüfung statt verfassungsgerichtliche Vorabkontrolle

Nicht zuletzt würde die Schmidt’sche Idee einer Wiedereinführung der Gutachterrolle des Bundesverfassungsgerichts aber auch zu einer Veränderung der Verantwortungsverteilung in der politischen Sphäre führen. Stünde die Möglichkeit im Raum, das Bundesverfassungsgericht bei diffizilen verfassungsgerichtlichen Fragen als Gutachter hinzuzuziehen, wäre schließlich auch die Tür dahingehend geöffnet, die politische Verantwortung bezüglich schwieriger rechtlicher Fragen dem Bundesverfassungsgericht zuzuschieben. Regieren bedeutet jedoch Entscheidungen zu treffen und für diese die staatspolitische Verantwortung zu tragen. Das Risiko verfassungswidriges Recht als Regierung zu verantworten sollte deshalb und auch um das Kontrollinstrument der Opposition – die abstrakte Normenkontrolle – in seiner Wertigkeit zu schützen, nicht auf die rechtssprechende Gewalt abgewälzt werden können. Ebenso wenig schuldet das Bundesverfassungsgericht der Regierung eine genaue „Handlungsanweisung“, etwa für das Aufstellen eines verfassungsgemäßen Haushalts. Es wandelt diesbezüglich vielmehr auf einem schmalen Grad: Zeigt das Gericht konkrete Möglichkeitskorridore für die Politik auf, wird ihm angekreidet dieser zugleich „Ketten“ anzulegen. Bleibt es hingegen zurückhaltend, läuft es Gefahr sich dem Vorwurf auszusetzen, man hätte sich genauere Vorgaben aus Karlsruhe erwartet. Gerade letztere Erwartung, die eng mit der Sehnsucht nach verfassungsgerichtlicher Prädiktion zusammenhängt, war dabei schon in der Bonner Republik immer wieder auszumachen. So bat etwa Anfang der 80er-Jahre Bundeskanzler Helmut Schmidt den damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda bei einem Treffen von Regierung und Bundesverfassungsgericht darum, ihm stichhaltige Beispiele für „schluderige Gesetze“ zu liefern. Die etwas ausweichend wirkende Reaktion seines Gegenübers findet sich im bis heute vorliegenden Protokoll des Treffens wieder: „Präsident Benda sagt ihm zu, hierzu eine Schrift von ihm zu übersenden, die er für eine Antrittsvorlesung gefertigt habe“ (BArch, B 122/16026, Bl. 6).

Um verfassungsrechtliche Ungewissheit zu minimieren, vermögen im Ergebnis weder entsprechende „Schriftübersendungen“ noch eine prädiktive Einbindung des Bundesverfassungsgerichts zu überzeugen. Sinnvoller erscheint es vielmehr Überlegungen anzustellen, wie Parlament und Ministerialbürokratie Gesetzesentwürfe verfassungsrechtlich gründlicher prüfen können. Insbesondere eine stärkere Befassung mit der oftmals stiefmütterlich behandelten Legistik, also dem Handwerk Gesetze zu schreiben, verspricht hier bisher ungehobenes Potenzial. Immer stärker auf externe Berater beim Schreiben von Gesetzen oder ihrer Prüfung zu setzen (Gesetzgebungsoutsourcing), vermag hingegen kein guter Ansatz zu sein. Zwar steht es der Ministerialverwaltung sowie der Regierung frei sich fremden Sachverstandes zu bedienen und sich Vorlagen zu eigen zu machen, doch sollte dies nicht dazu führen, dass die selbstständige Prüfung der Verfassungskonformität bzw. Rechtsprüfung eines Gesetzesentwurfs durch das Justiz-, Innen- und ggf. Finanzministerium zurückgefahren wird. Hieran hängt schließlich auch die Ausübung des Widerspruchsrecht auch § 26 GOBReg, das gerade den Beschluss von verfassungswidrigen Gesetzesentwürfen im Binnenraum der Regierung verhindern soll.

Eine weitere simple Verbesserung wäre in einem nachgelagerten Schritt zu erreichen, wenn sich die regierungstragenden Fraktionen auf angemessen lange Anhörungsfristen in Gesetzgebungsverfahren verständigen könnten. Der Ertrag wäre wohl nicht nur eine realistischere Chance für die Ministerien, sich mit verfassungsrechtlicher Kritik an Gesetzesentwürfen zu befassen, sondern auch den Blick der Parlamentarier dahingehend zu schärfen, Gesetzesentwürfe nicht vorschnell als „eindeutig“ verfassungswidrig oder verfassungsgemäß zu bezeichnen. Das Restrisiko dennoch als Regierung oder Parlament verfassungswidriges Recht mitzutragen, können all diese Bemühungen letzten Endes nur eindämmen, nicht aber gänzlich auflösen. Dies ist auch nicht schlimm. Dem gewaltengeteilten, demokratischen Verfassungsstaat steht die nachträgliche Adressierung von verfassungsrechtlich ungeklärten Fragen durch Karlsruhe schließlich gut.

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