Die Idee der Staatsräson im neuesten deutschen Recht – Verfassungsblog – Go Health Pro

Ein Fehlurteil des Verwaltungsgerichts Regensburg zu den Bekenntnisklauseln im reformierten Staatsangehörigkeitsrecht

Ein früher Text des späteren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenfördes beschäftigt sich mit den Folgen der Hallstein-Doktrin für das Staatsangehörigkeitsrecht im geteilten Deutschland. Das Problem bestand darin, dass der westdeutsche Staat die DDR und ihre Staatsangehörigkeit nicht anerkannte, obwohl ihre Bürger im Westen natürlich weder an Wahlen teilnahmen noch dem Schutz der Institutionen der Bundesrepublik unterstanden oder Leistungen erhielten. Aus Gründen der Staatsräson, so Böckenförde damals, schreibe die Bundesrepublik auf diese Weise eine politische Lebenslüge namens Alleinvertretungsanspruch in geltendes Recht um. Die Politik der Nichtanerkennung münde in einer „rechtszerstörenden Fiktion“ der ungeteilten, aber faktisch nur westdeutschen Staatsangehörigkeit. Sei nicht vielmehr die Anerkennung einer neuen politischen Wirklichkeit Bedingung für ein Recht der Bürgerschaft, das dem inneren und äußeren Frieden dient? „Identitätsansprüche auf der einen“, so endet jener Text, „rufen notwendig die Sezession auf der anderen Seite hervor, weil dann die Sezession Bedingung der Selbstbehauptung wird.“1)

Die Hallstein-Doktrin war wenig später tot, und seit dem Ende der Teilung ist das Staatsangehörigkeitsrecht mehrfach reformiert worden, am grundlegendsten mit der Anerkennung der Einwanderung als Tatsache im Jahr 2000. Die Politik der Zugehörigkeit ist seither Migrationspolitik, das Staatsangehörigkeitsrecht Integrationsrecht der postmigrantischen Gesellschaft. Die Frage der Staatsräson wird es aber nicht los. Wer sich von seinen rechtszerstörenden Fiktionen heute ein Bild machen will, lese das kürzlich veröffentlichte und inzwischen rechtskräftige Urteil der 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. Oktober 2024.2) Es ist eine der ersten bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen, die zu der im Juni 2024 in Kraft getretenen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ergangen sind.

In die parlamentarische Beratung dieser Reform war der mörderische Überfall der Hamas auf Israel und der Beginn von Israels Krieg in Gaza gefallen. Als eine Art Übersprungshandlung der ansonsten weitgehend gelähmten deutschen Nahostpolitik sollte im Einbürgerungsrecht die Merkel-Scholz-Doktrin von Existenz und Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson festgeschrieben werden. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a StAG regelt seither, dass nur Deutscher werden kann, wer „sich zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihre Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens, sowie zum friedlichen Zusammenleben der Völker und dem Verbot der Führung eines Angriffskrieges bekennt“. Ergänzt wurde die Regelung durch eine Verdachtsklausel, wonach die Einbürgerung ausgeschlossen ist, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass das Bekenntnis, das der Ausländer […] abgegeben hat, inhaltlich unrichtig ist“ (§ 11 Nr. 1a StAG). Hinter jeder confessio muss seither von Rechts wegen eine untadelige fides stehen. Die Union hatte vergeblich versucht, diesen Bekenntniszwang noch zu verschärfen durch ein ausdrückliches „Bekenntnis zum Existenzrecht Israels“ und die Möglichkeit der Wiederausbürgerung von Deutschen, „die das Existenzrecht des Staates Israel leugnen“.

Ein exemplarischer Sachverhalt

Der Regensburger Fall betraf einen in Syrien geborenen staatenlosen Palästinenser sunnitischen Bekenntnisses, der 2015 vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen war. Die gesetzlichen Voraussetzungen der Einbürgerung erfüllte er: Er war nicht straffällig geworden, konnte seinen Unterhalt bestreiten und die erforderlichen Sprachkenntnisse nachweisen. Er hatte den Einbürgerungstest bestanden, wenn auch mit ausreichend, die erforderliche Loyalitätserklärung abgegeben, und den Bekenntnisfragebogen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgefüllt und unterschrieben. Die gesetzliche vorgeschriebene Anfrage beim Verfassungsschutz (§ 37 StAG) ergab aber, dass dort wegen einer lokalen salafistischen Gruppe eine Akte geführt wurde über eine Moschee, die der Antragsteller besuchte. Noch nicht einmal der Geheimdienst behauptete allerdings irgendeinen konkreten Zusammenhang mit dem Antragsteller. Als die Moschee 2013 zuletzt im bayerischen Verfassungsschutzbericht stand, lebte jener noch in Syrien. Gleichwohl Anlass genug für ein wahres Verhör vor der Einbürgerungsbehörde.

Dessen Niederschrift, die das Urteil in vollem Umfang dokumentiert, ist das Protokoll einer von der Justiz anstandslos gebilligten, streckenweise skandalösen Grenzüberschreitung. „Trinken Sie Alkohol oder essen Schweinefleisch?“ ist noch eine der harmloseren Fragen; offenbar eine kleine Erinnerung an Bier und Bratwurst als erste Bürgerpflichten. Ob er Kontakt zu Christen, Juden oder Hindus habe? Wie er beim Spazierengehen auf anzüglich gekleidete Frauen reagiere? Ob er seine Gebete nachhole, wenn er sie nicht zu den Zeiten schaffe? Ob er die Mehrehe über das deutsche Familienrecht stelle? Ob er „die (sic!) wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna für richtig“ halte? – Das Protokoll dokumentiert hier die einzig richtige Antwort: „Warum werden mir diese Fragen gestellt? Das hat doch nichts mit der Einbürgerung zu tun, sondern mit Politik und Religion.“ Man müsste das Tonband des Gesprächs kennen, das dem VG vorgelegen hat. Es würde verraten, ob der maliziöse Zynismus der Anschlussfrage offen oder unwillkürlich ist: „Finden Sie Religionsfreiheit gut und richtig?“ Antwort laut Niederschrift: „Alle Religionen sind gleich.“ Vorhalt des Sachbearbeiters: „Die Menschen sind gleich, die Religionen nicht. Da gibt es schon Unterschiede.“ Das muss man also wissen, wenn man Deutscher werden will.

Die Einbürgerung scheiterte letztlich an zwei anderen Antworten auf zwei andere Fragen. Aus ihnen schlossen Behörde und Gericht, der Antragsteller vertrete eine „Variante des antizionistischen Antisemitismus“, die dem Existenzrecht des israelischen Staates als deutscher Staatsräson widerspricht. Sie lauteten:

Frage: „Erkennen Sie Israel als eigenständigen Staat an?“

Antwort: „Es gibt kein Israel. Es gibt Juden, aber Israel nicht als Land.“

Frage: „Die völkerrechtliche Vereinbarung zur Schaffung des Staates Israel erkennen Sie nicht an?”

Antwort: “Nein.”

Alles an diesem offenbar ohne Anleitung und Vorbereitung geführten Wortwechsel und seiner gerichtlichen Aufarbeitung ist schräg, ja absurd. So kennt das Völkerrecht zwar die Anerkennung von Staaten durch andere Staaten, aber keine Anerkennung durch Individuen. Die Mühe, nach der offenbar gemeinten moralischen Anerkennung des Existenzrechts (gemeint in der Regel: Legitimität) zu fragen, hätte man sich schon geben können. Ebenso blieb die begriffliche Differenz von Staat und Land unaufgelöst, die ja gerade in diesem Fall besonders stark ist. Und schließlich gibt es auch überhaupt keine völkerrechtliche Vereinbarung dieses Inhalts, sondern eine Resolution der UN-Generalversammlung.

Um derlei Peinlichkeiten zu vermeiden, gibt es Lösungen. Die Bundesregierung könnte beispielsweise etwa durch eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift (Art. 84 Abs. 2 GG) Kriterien und Gesprächsleitfäden entwickeln und dadurch zugleich die politische Verantwortung für den Vollzug ihrer Politik der Staatsräson übernehmen. Die entsprechende Richtlinie stammt aber unverändert aus dem Jahr 2000. Zumindest eine Novelle der vorläufigen Anwendungshinweise war, hört man, in Arbeit. Ob nach dem Regierungswechsel noch etwas daraus wird? Bis auf weiteres lauten die maßgeblichen Regeln für Sachbearbeiter daher: 1. Wer die Staatsräson auf seiner Seite hat, muss sich nicht informieren. 2. Wer Antisemit ist, entscheiden wir.

Der falsche Begriff der Staatsräson

Nun ist die Staatsräson seit Machiavelli und Botero bekanntlich ein Topos, der aus Gründen der Selbsterhaltung des Staates den Bruch des Rechts und die Verletzung der Allgemeinmoral legitimiert. Die Hallstein-Doktrin hatte starke Elemente von Staatsräson. Durch Westbindung, israelische Staatsgründung und Wiedergutmachungsfrage waren die bundesrepublikanische und die israelische Staatsräson sogar eng miteinander verwoben.3) Aber die Merkel’sche Rhetorik? Sie benutzt „Staatsräson“ mehr oder weniger als Synonym für das, was auf anderen Politikfeldern „Alternativlosigkeit“ heißt: die möglichst wenig in Frage zu stellende politisch-militärische Unterstützung Israels. Nicht eine genuin politische Entscheidung meint diese Staatsräson, sondern gerade den moralisch motivierten Verzicht auf sie. Das zeigt sich schon an den Formen, auf die sie neben den fortgesetzten Waffenlieferungen angewiesen ist, namentlich an der anderenfalls schlicht paradoxen Verrechtlichung der Rhetorik der Staatsräson durch Gesetzgebung, Resolutionen, Förderpolitiken, Behörden und Rechtsprechung.4) Welche Folgen die Verrechtlichung dieser Rhetorik hat, zeigen die Entscheidungsgründe.

Der erste Begründungsschritt ist der offene Bruch mit der Legalität. Es gehe bei der Einbürgerung, so das Gericht, nicht nur um die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen, sondern „auch um die Akzeptanz zentraler historisch gewachsener Werte und moralischer Verpflichtungen der Deutschen“. Das ist um so bemerkenswerter, als die Akzeptanz ja gerade durch den novellierten § 10 StAG eine gesetzliche Voraussetzung geworden ist. Auch die naheliegende Frage, wie von der Akzeptanz auf die Pflicht zum eigenen Bekenntnis geschlossen werden kann, wird nicht behandelt, im Gegenteil: Zu den Werten und Verpflichtungen gehört nach dieser Rechtsprechung seit dem 7. Oktober ausdrücklich auch die Parteinahme für Israel als Konsequenz aus der Shoa. Trotz der Ablehnung des Änderungsantrags der Union sei dessen Zielsetzung (!) „bereits vom geltenden Recht abgedeckt“. Begründung: Eine nicht bindende Bundesratsresolution (Drucksache 647/23), die ebenso wie die zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht beschlossene, ebenso wenig gesetzeskräftige Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens (Drucksache 20/13627) die direkte Verknüpfung von Staatsräson und Staatsangehörigkeit vollzieht. Die Umgehung der Gesetzesform hat die intendierten Wirkungen. Auf dieser Linie liegt auch ein Erlass des Innenministeriums Sachsen-Anhalt, der – angesichts der Genese von § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a StAG jedenfalls für Anspruchseinbürgerungen jetzt evident rechtswidrig – für alle Einbürgerungen ab sofort ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels verlangt.

Der zweite Begründungsschritt ist die Eliminierung der Differenz zwischen dem, was der Gesetzgeber geregelt hat (Bekenntnis zum Schutz jüdischen Lebens) und dem, was er aus guten Gründen abgelehnt hat zu regeln (ausdrückliches Bekenntnis zum Staat Israel). Diese Differenz ist nach Auffassung des Gerichts per se antisemitisch, weil sie die Legitimation des Staates Israel als „Heimstatt für alle Menschen jüdischen Glaubens“ in Frage stelle. Selbst die nachgeschobene Erklärung des Antragstellers, den Staat Israel „nach Oslo-Friedensprozess“ anzuerkennen, ändere daran nichts, weil „angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten kaum zu erwarten“ sei, dass auf dieser Basis eine „Übereinkunft über einen permanenten Status zwischen Israel und Palästina“ gefunden werden könne. Denn diese Aussage lasse offen, „wo er [der Antragsteller] den Schuldigen [!] an den aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sehe“. Aus der Verpflichtung auf den Schutz jüdischen Lebens wird so die Pflicht zur politischen Positionierung in einem als Kampf der Zugehörigkeitskulturen inszenierten Konflikt. Wohlgemerkt: in einem Konflikt, zu dessen tragischer Dialektik es gehört, dass beide Seiten gerade infolge der kolonialen Durchdringung ihres politischen Raumes auf die Universalisierung ihrer Position angewiesen sind. Nur: Warum soll man sich als Bewerber um die deutsche Staatsbürgerschaft überhaupt zu Kriegsschuldfragen verhalten müssen? Dass gerade das liberal-konservative Spektrum mit pseudo-etatistischen Argumenten auf eine solche Position dringt, sagt eigentlich alles: Zu den besten Argumenten für den Etatismus gehörte schließlich seit je her, dass man sich als Bürger auf seine privaten Animositäten konzentrieren darf. Für Feinde und Kriege hat man schließlich eine Regierung.

Der dritte Begründungsschritt ist die Scharfstellung eines gruppenbezogenen Generalverdachts. Vielleicht, so spekuliert das Gericht, gebe es auch einen „nicht antisemitisch konnotierten Antizionismus“, aber allenfalls als „Ausnahme“. Deswegen sei der Antragsteller für den fehlenden Antisemitismus beweispflichtig. Wie beweist man, dass man kein Antisemit ist, wenn das Fehlen antisemitischer Taten nicht als Beweis genügt? Das Gericht ist sich nicht zu schade, aus einzelnen falschen Antworten des insgesamt bestandenen (!) Einbürgerungstests zu schließen, dass sein Loyalitätsbekenntnis nicht von einer „tatsächlichen inneren Überzeugung“ getragen gewesen sei. Nach Auskunft des VG Regensburg war der Kläger nicht anwaltlich vertreten und hat auch keinen Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 VwGO gestellt. Die Kammer hat § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO aus nicht ersichtlichen Gründen verneint. 

Moralischer Triumphalismus

Die Entscheidung ist auch ansonsten sehr aufschlussreich. Man erfährt nicht nur, welchen Begriff sich die untere Funktionärsliga der Republik von ihrer politischen Freiheit und von sozialer Homogenität macht. Man lernt auch, dass sich die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit über Gut und Böse im Nahostkonflikt aus Broschüren der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung und über die Homepage der israelischen Botschaft in Berlin unterrichtet.

Vor allem aber: Das VG Regensburg hat die Entscheidung kaum zufällig am 7. Oktober verkündet, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn von Israels Krieg im Gazastreifen, der inzwischen vom Internationalen Gerichtshof zumindest in die unmittelbare Nähe des Völkermordtatbestandes gerückt wurde, von amnesty international und anderen rundheraus als Völkermord eingestuft und der geführt wird unter leiser Komplizenschaft und immer lauter werdendem Schweigen der deutschen Politik, die sich unterdessen vor dem IGH gegen den Vorwurf der Beihilfe unter der Völkermord-Konvention verteidigt. Gegen die führenden israelischen Politiker lagen schon zum Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens Anträge auf Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, die später auch ergingen. Nicht nur gegenüber dem Kläger muss man deswegen das Ensemble aus der Art der Begründung und dem Tag der Verkündung als eine abstoßende Geste des moralischen Triumphalismus lesen. Sie inszeniert symbolisch die ausjudizierte Verpflichtung auf eine obligatio impossibilis zur Integration nicht in einen Staat, sondern in eine moralisch aufgeladene Politisierung von Erinnerung (nochmals: § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a StAngG). Und das bedeutet auch: zur Verstrickung in ein Gewaltgeschehen, vor dessen Geschichte der deutsche Staat die Augen verschließt, während viele Immigrant:innen sie überdeutlich sehen.

So vernünftig, so rechtsstaatlich sieht sie also aus, die von Landratsämtern und erstinstanzlichen Richtern praktizierte Staatsräson, die vor allem eine Erzählung der Bundesrepublik von sich selbst verteidigt. Wäre aber nicht dieses Jahr des Krieges Gelegenheit gewesen, auch einmal den zumal migrantischen Stimmen zuzuhören, die seit Jahren sagen und publizieren, dass mit dem deutschen Antisemitismusdiskurs auch moralisch etwas nicht stimmt – von allen politischen Fragen abgesehen? Die Scheu der Intellektuellen, die den Nahen Osten kennen, zur deutschen Debatte ihre Sicht der Katastrophe beizutragen, liegt gewiss nicht daran, dass sie nichts zu sagen hätten. Möglich wäre es. Der Schriftsteller Per Leo hat die befreiende Kraft des deutschen Zuhörens in diesen Fragen unlängst in einem offenen Brief an seinen Kollegen Behzad Karim Khani in einzigartiger Weise vorgeführt.5)

Schließlich: Welches politische Signal sendet das neue Einbürgerungsregime an die Aspirant:innen auf die deutsche Staatsangehörigkeit? Dass es einem im Zweifel nichts hilft, wenn man alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, wenn man mit dem falschen Milieu Umgang hatte? Dass noch unrichtige Antworten aus einem bestandenen Einbürgerungstest als Belastungsindizien des Charaktertests gebraucht werden? Dass es die Bundesrepublik mit den erlernbaren Voraussetzungen, die ihre eigenen politischen Grundlagen betreffen, nicht richtig ernst nimmt (98 Prozent Erfolgsquote beim Einbürgerungstest!), um bei den nicht erlernbaren Gesinnungsvoraussetzungen politische Exklusion um so leichter zu ermöglichen? Das ist die eine Seite der Sache, die Zerstörung rechtsstaatlicher Standards durch die verrechtlichte Staatsräson.

Die Frage liegt aber zugleich grundsätzlicher. Mit der gesetzlichen Anordnung einer Verpflichtung zu einem historisch-moralischen Selbstverständnis kann man, auch davon handelt Leos Brief, als Einbürgerungsbewerber:in auf zweierlei Weisen umgehen: mimetisch oder hermetisch, durch die Imitation fremder Bekenntnisse oder durch Schweigen. Das Protokoll des Regensburger Verhörs vermerkt an vielen Stellen: „keine Meinung“, oder eben auch nur: „schweigt“, „schweigt“. Schweigen als Bedingung der Selbstbehauptung? Die Einbürgerung ist der normative Testfall der Republik. Die Bundesrepublik besteht ihren Einbürgerungstest zurzeit nicht.

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