Grenzgänger – Go Health Pro

Kaum im Amt, hat der neue deutsche Innenminister die Pläne zu einer strikteren Kontrolle an den deutschen Staatsgrenzen umgesetzt. Die Pläne der Bundesregierung und die aktuelle Praxis der Bundespolizei werfen Fragen mit Blick auf die Vereinbarkeit mit der Dublin-III-Verordnung und mit dem Schengener Grenzkodex auf. Die von der Bundesregierung zur Rechtfertigung herangezogene Vorschrift des Art. 72 AEUV vermag die getroffenen Maßnahmen nicht zu rechtfertigen. Unilaterale Abweichungen würden das in Art. 3 Abs. 2 EUV formulierte Ziel der Realisierung eines unionsweiten Mobilitätsraums gefährden. Der Unionsgesetzgeber hat sich daher in den jüngsten Reformen des Schengen-Systems und des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) entschieden, kooperative und solidarische Lösungen von den Mitgliedstaaten zu verlangen. Wo das Sekundärrecht Ausnahmen vorsieht, verlangen sie einen erhöhten Begründungsbedarf auf und sehen intensivierte Abstimmungsmechanismen vor, die den Raum nationaler Alleingänge noch weiter einschränken.

Neue alte Grenzkontrollen

Doch was hat sich überhaupt verändert? Innenminister Dobrindt verlängerte zunächst die Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen des Schengenraums um sechs Monate. Diese Grenzkontrollen waren bereits von seiner Vorgängerin Nancy Faeser eingeführt und mehrfach verlängert worden. Dass die deutschen Landgrenzen zu allen Nachbarstaaten regelmäßig kontrolliert werden, ist somit schlicht eine Fortsetzung der Politik der Ampel-Regierung.

Zugleich wies Dobrindt die Bundespolizei an, § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG zur Anwendung zu bringen, wonach Schutzsuchenden, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, die Einreise verweigert werden kann. Laut Dobrindt wurde damit eine (angebliche) „mündliche Weisung“ von Angela Merkels Innenminister de Maizière aus dem Jahr 2015 zurückgenommen, die die Anwendung dieser Vorschrift untersagt habe. „Erkennbar vulnerable Gruppen“ sollen allerdings weiterhin an die zuständigen Stellen oder Erstaufnahmeeinrichtungen weitergeleitet werden (der Text der Weisung ist in diesem Blogpost zu finden).

Rechtswidrige Grenzkontrollen

Die Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen waren bereits mehrfach Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen, zuletzt unter anderem vor dem BayVGH (dazu hier). Deren Hintergrund ist die zentrale Bedeutung, die die Abschaffung von Binnengrenzkontrollen für die Realisierung eines unionsweiten Mobilitätsraums hat. Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 77 Abs. 1 AEUV geben der Union die Schaffung eines solchen kontrollfreien Mobilitätsraums als einer ihrer wichtigsten Aufgaben auf. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Raum durch den Schengener Grenzkodex (SGK) legislativ ausgestaltet. Art. 25, 25a und 29 SGK erlauben unter eng umrissenen Voraussetzungen als ultima ratio die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, die zudem zeitlich strikt begrenzt sind. Die Höchstdauer von Kontrollen, die ein Mitgliedstaat wegen einer anhaltenden Bedrohungslage einführen darf, beträgt 24 Monate. Weitergehende Kontrollen an den Binnengrenzen sind nach Art. 25a Abs. 6 SGK in besonderen Fällen für insgesamt maximal ein weiteres Jahr und nur in enger Abstimmung mit der Kommission zulässig.

Dieser Mechanismus galt in seinen Grundzügen auch vor der Neufassung des SGK. Die Neufassung intensiviert die Abstimmungsmechanismen mit der Kommission und anderen Mitgliedstaaten. Darüber hinaus legt der neue SGK den Mitgliedstaaten, die Grenzkontrollen einführen wollen, weitere Rechtfertigungspflichten auf und verlangt, dass alternativen und weniger einschneidenden kooperativen Maßnahmen der Vorzug zu geben ist. Im Gegenzug wird die zeitliche Obergrenze für Grenzkontrollen, die wegen „derselben anhaltenden Bedrohung“ eingeführt werden, ausgeweitet: Nach Durchführung aufwändiger Konsultations- und Prüfverfahren sieht der SGK die Durchführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen für insgesamt maximal 36 Monate vor (Art. 25a Abs. 6 SGK). Daneben gilt für den Fall „anhaltender schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen“, aufgrund derer „das Funktionieren des Raums ohne Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist“, wie bisher die Möglichkeit, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission Grenzkontrollen „als letztes Mittel […] zum Schutz der gemeinsamen Interessen“ empfiehlt (Art. 29 Abs. 2 SGK).

Im Zusammenhang mit der deutschen Regierungspraxis kommt als Rechtfertigungsgrund einer Verlängerung der Grenzkontrollen lediglich Art. 25 Abs. 1 lit. c SGK in Frage: eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit durch eine „außergewöhnliche Situation, in der plötzlich eine sehr hohe Zahl unerlaubter Migrationsbewegungen von Drittstaatsangehörigen zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet“. Deutschland müsste begründen, dass hierdurch „die Ressourcen und Kapazitäten der gut vorbereiteten zuständigen Behörden insgesamt erheblich unter Druck geraten und das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt wahrscheinlich gefährdet ist“. Dabei ist zu beachten, dass „diese Situation durch Informationsanalysen und alle verfügbaren Daten, auch von betreffenden Agenturen der Union, belegt wird“. Angesichts der derzeit stark rückläufigen Zahlen der Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen erscheint die Begründung einer solch außergewöhnlichen Zahl kaum erfolgversprechend. Zudem müsste die Bundesregierung darlegen, dass es sich um eine neue Bedrohungslage handelt und nicht etwa um eine bloße Fortsetzung einer seit Jahren bestehenden Situation (was der BayVGH zu Recht verneint hat).

Rechtswidrige Zurückweisungen

Dobrindt hat jedoch nicht nur die Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen verlängert, sondern legt mit seiner Weisung auch nahe, dass die Bundespolizei Schutzsuchende, die nicht „erkennbar vulnerabel“ sind, an den Grenzen zu anderen Mitgliedstaaten zurückweisen wird. Zwar sprechen die Weisung und der Wortlaut des § 18 Abs. 2 AsylG nur von „kann“. Erste Reaktionen aus der Bundespolizei lassen jedoch darauf schließen, dass es in der Praxis zu umfassenden Zurückweisungen kommen wird.

Tatsächlich ist § 18 Abs. 2 AsylG aber bereits lange unionsrechtlich überlagert und damit unanwendbar. Für Drittstaatsangehörige ohne Aufenthaltsrecht gilt eigentlich die Rückführungsrichtlinie, die eine Rückführung in den Drittstaat (!) auf der Basis einer sorgfältigen Prüfung sowie entsprechenden Rechtsschutz und eine angemessene Ausreisefrist verlangt, formlose Zurückweisungen also ausschließt. Für Deutschland wird diese Regelung allerdings durch die Existenz von Rücknahmeabkommen mit allen Nachbarländern modifiziert, die Art. 6 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie zulässt, sofern sie vor deren Inkrafttreten bestanden. Deutschland darf also Personen an den Binnengrenzen grundsätzlich in die Nachbarstaaten zurückweisen (zu den Voraussetzungen ausführlich hier).

Dies gilt allerdings nicht, sobald die Betroffenen internationalen Schutz suchen. Für Asylbewerber:innen gelten unabhängig von etwaigen Rücknahmeabkommen die Regelungen der Dublin-III-Verordnung. Sie regelt alle Asylgesuche, die im Unionsgebiet gestellt werden, einschließlich solcher „an der [Außen-]Grenze“ der Union (Art. 3), die in jedem Fall zu prüfen sind und das normale Schengener Grenzregime als lex specialis verdrängen. Dies gilt selbstverständlich auch für den Fall, dass an EU-Binnengrenzen vorrübergehend Grenzkontrollen stattfinden. Gemäß der Verordnung ist zunächst der für die inhaltliche Prüfung zuständige Mitgliedstaat zu bestimmen und allenfalls ein Übernahmegesuch an ihn zu stellen. Gegen eine in diesem Zusammenhang ergehende Überstellungsentscheidung können die Asylbewerber:innen ein Rechtsmittel einlegen. § 18 Abs. 2 AsylG, der auf die Rechtslage vor Inkrafttreten der Dublin-Verordnung zugeschnitten ist, wird von diesen Regelungen überlagert, er ist schlicht totes Recht. Die Pflicht der Mitgliedstaaten, ein Dublin-Verfahren durchzuführen und für diesen Zweck die Einreise zu gestatten, gilt, anders als Dobrindts Weisung nahelegt, für alle Asylbewerber:innen unabhängig von ihrer Vulnerabilität. Eine Zurückweisung von Asylbewerber:innen an EU-Binnengrenzen ist daher ausnahmslos unionsrechtswidrig.

Art. 72 AEUV kann nationale Alleingänge nicht rechtfertigen

Die Bundesregierung steht jedoch auf dem Standpunkt, dass die neu angeordnete Praxis aufgrund von Art. 72 AEUV gerechtfertigt ist. Nach dieser Vorschrift bleibt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der inneren Sicherheit“ von unionsrechtlichen Regelungen u.a. im Bereich Asyl, Einwanderung und Grenzschutz unberührt. Einige mitgliedstaatliche Regierungen interpretieren dies neuerdings als Möglichkeit, von den gemeinsamen Vorschriften abzuweichen, also nationales Recht anstelle des Unionsrechts anzuwenden. Dies ist eine erstaunliche Entwicklung: Nicht einmal zu der Hochphase der Flüchtlingsschutzkrise 2015/16 hat die deutsche Bundesregierung ihre Maßnahmen mit Art. 72 AEUV begründet. Eine so drastische Infragestellung des Projekts eines unionsweiten Mobilitätsraums war bislang europaskeptischen Regierungen wie der ungarischen vorbehalten. Neuerdings rekurriert auch die österreichischen Bundesregierung in Bezug auf den vorübergehenden Stopp des Familiennachzugs auf Art. 72 AEUV. Die deutsche Bundesregierung hat dieses Argument erstmals in einem Fall vorgetragen, der die Wiedereinführung von Grenzkontrollen durch Österreich betraf (Rn. 55).

Der EuGH ist einer solchen Interpretation des Art. 72 AEUV jedoch entschieden entgegengetreten, beginnend mit einer Grundsatzentscheidung im Jahr 2020. Auf dieser Linie hat der EuGH speziell zum Thema Grenzkontrollen klargestellt, dass die „bloße Tatsache, dass eine nationale Maßnahme, wie eine Entscheidung über Kontrollen an den Binnengrenzen, zum Schutz der nationalen Sicherheit getroffen wurde, nicht dazu führen“ kann, dass Unionsrecht nicht mehr anwendbar sei bzw. die Mitgliedstaaten „von der Beachtung des Unionsrechts entbunden“ seien (Rn. 84). Hier wird ein grundlegend anderes Verständnis der Regelung deutlich als es die genannten Regierungen zugrunde legen: Art. 72 AEUV ist keine Generalklausel, die den Mitgliedstaaten ein Abweichen vom Unionsrecht erlaubt, sondern richtet sich in erster Linie an den Unionsgesetzgeber, der die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Sicherheit zu beachten hat, wenn er seinem Auftrag zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) nachkommt.

Art. 72 AEUV lässt sich deshalb auch nicht als „Schutzklausel“ verstehen, wie sie aus dem Binnenmarktrecht bekannt sind und dort im weiten Umfang Beschränkungen von Grundfreiheiten des Binnenmarkts rechtfertigen. Anders als das Binnenmarktrecht kennt der RFSR keine unmittelbar anwendbaren Vorschriften, sodass Art. 72 AEUV ohne Aktivwerden des Unionsgesetzgebers keine eigenständige Bedeutung zukommt. Der Vergleich der Vorschrift mit den Schutzklauseln im Binnenmarktrecht passt daher dogmatisch nicht, auch wenn der EuGH die Vorschriften in einem Atemzug nennt, um ihren abschließenden Charakter zu betonen (Rn. 86). Eine solche Klausel für nationale Alleingänge auf einem harmonisierten Sektor findet sich für den Binnenmarkt in Art. 114 Abs. 4 AEUV, der ausdrücklich eine Beibehaltung von nationalen Vorschriften erlaubt, die durch „wichtige Erfordernisse i.S.d. Art. 36 AEUV“ gerechtfertigt sind. Diese nationalen Ausnahmen bedürfen nach Art. 114 Abs. 6 AEUV jedoch der Zustimmung der Kommission. Die Vertragsbestimmungen zum RFSR sehen einen solchen kontrollierten Alleingang im Falle der Harmonisierung durch den Unionsgesetzgeber aber gerade nicht vor. Mit anderen Worten: Der Unionsgesetzgeber muss gemäß Art. 72 AEUV die Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten berücksichtigen, die dabei gefundenen Lösungen sind aber für die Mitgliedstaaten verbindlich.

Den Unterschied zum Binnenmarktrecht bestätigt auch der EuGH in seiner Rechtsprechung. Sobald der Unionsgesetzgeber aktiv geworden ist, ist Art. 72 AEUV legislativ mediatisiert, d.h. es verbleibt kein Anwendungsbereich mehr für diese Vorschrift. Im konkreten Fall der Binnengrenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich wies der EuGH auf den „umfassenden Rahmen“ (Rn. 87) hin, den der Unionsgesetzgeber mit dem im Schengener Grenzkodex vorgesehenen Verfahren geschaffen habe. Dessen Ziel sei es, „ein angemessenes Gleichgewicht, wie es in Art. 3 Abs. 2 EUV in Aussicht genommen wird“ (Rn. 88), im europäischen Mobilitätsraum zu gewährleisten. Dabei werde der Ausübung der sicherheitsbezogenen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten durch die sekundärrechtliche Regelung bereits hinreichend Rechnung getragen. Der Unionsgesetzgeber hat das spezifische Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im europäischen Mobilitätsraum so ausgestaltet, dass die Mitgliedstaaten im Falle einer anhaltenden Bedrohung kooperative Maßnahmen ergreifen müssen, um dieser Bedrohung entgegenzuwirken (Rn. 77). Die Ausgestaltung des europäischen Mobilitätsraums unterliegt danach einer Kooperationspflicht. Aus unionsverfassungsrechtlicher Perspektive lässt sich dies als Ausdruck des Prinzips der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV und des Grundsatzes der Solidarität aus Art. 2 EUV verstehen. Sicherheitsbedrohungen von außen wie von innen sind daher, von kurzfristigen Ausnahmen abgesehen, kooperativ zu lösen und seit der Neufassung des Schengener Grenzkodex eingehend und in Absprache mit der Kommission zu begründen.

Nationale Alleingänge sind damit im RFSR unionsrechtswidrig und können nicht unter direktem Rückgriff auf Art. 72 AEUV gerechtfertigt werden. Vielmehr hat der Unionsgesetzgeber die entsprechenden mitgliedstaatlichen Sicherheitsinteressen in seiner Gesetzgebung zu berücksichtigen. Würde Art. 72 AEUV unilaterale Abweichungen unter Verweis auf nationale Sicherheitsinteressen erlauben, wäre das Projekt der Realisierung eines europäischen Mobilitätsraums ernsthaft gefährdet.

Umfassende sekundärrechtliche Mediatisierung im RFSR

Der Gedanke der legislativen Mediatisierung greift daher auch in Bezug auf andere Rechtsakte, die den europäischen Mobilitätsraum konkretisieren. Auch die Dublin-III-Verordnung schafft einen umfassenden und kooperativen Rahmen. Sie errichtet ein lückenloses System der Asylzuständigkeit, in dem die Verteilung von Verwaltungs- und Versorgungslasten nach objektiven Kriterien erfolgt, die nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten stehen. Kein Mitgliedstaat kann durch einen Rückgriff auf Art. 72 AEUV diese Lasten einseitig auf andere Mitgliedstaaten verschieben. Dies gilt umso mehr, als die Dublin-Regelungen nicht nur der Erreichung unionaler Aufgaben und Ziele dienen, sondern auch dem Schutz der Rechte von Schutzsuchenden. Ihre Interessen an einer klaren Zuständigkeitsverteilung und einem effektiven Zugang zum Asylverfahren müssen mit in Rechnung gestellt werden.

Vor dem Hintergrund legislativer Mediatisierung lässt sich auch der vorübergehende Stopp des Familiennachzugs durch die österreichische Bundesregierung nicht mit Art. 72 AEUV rechtfertigen. Zum einen hat der Unionsgesetzgeber bereits mit der Familiennachzugsrichtlinie ein Instrument geschaffen, in dem er eine bewusste Abwägungsentscheidung getroffen hat, zugunsten bestimmter klar definierter Gruppen von Drittstaatsangehörigen einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung zu begründen, der über das menschenrechtlich geforderte Minimum hinausgeht. Flüchtlinge sind ausdrücklich begünstigt, der Kreis der begünstigten Familienangehörigen aber bewusst beschränkt. Die Berufung der österreichische Regierung auf eine „Gefährdung der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Einrichtungen“ ist schon insofern wenig überzeugend, als es in der Sache um die angespannte Lage im Schulsystem eines einzelnen Bundeslandes geht. Die Regierung stützt sich zudem auf die Behauptung steigender Asylantragszahlen (S. 13) und das Fehlen gelinderer Mittel für eine effektive Entlastung (S. 11 ff.). Die derzeit unionsweit sinkenden Asylzahlen (siehe oben) machen eine solche Rechtfertigung schon faktisch unplausibel. Hinzu kommt, dass mit der Gewährung eines individuellen Rechts auf Familiennachzug erwartbar und damit auch planbar der Schulbesuch der nachziehenden Kinder verbunden ist. Diese Konsequenz hat der Unionsgesetzgeber sehenden Auges in seine gesetzgeberische Entscheidung eingestellt.

Soweit der EuGH trotz sekundärrechtlicher Mediatisierung ausnahmsweise eine Berufung auf Art. 72 AEUV zulässt, beschränkt er dies auf „ganz bestimmte außergewöhnliche Fälle“ (Rn. 86). Solche außergewöhnlichen Fälle wird man nur dort annehmen können, wo es sich um Fallgestaltungen und Folgen handelt, die der Gesetzgeber nicht im Blick hatte oder nicht im Blick haben konnte. Für die erwartbare Folge der Beschulung nachziehender Kinder von international Schutzberechtigten ist dies offensichtlich nicht der Fall. Für die Grenzkontrollen und Zurückweisungen an den Schengen-Binnengrenzen lässt sich eine solche außergewöhnliche Lage ebenfalls nicht begründen. Für die Grenzkontrollen hat der Gesetzgeber eine entsprechende Migrationslage ausdrücklich gewürdigt, und die Garantie eines Asylverfahrens in der Union bei gleichzeitigem Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten ist die Raison d’Être des Dublin-Systems. Wenn unilaterale Wahrnehmungen von „Überlastungen“ mit Asylbewerber:innen an dessen Stelle treten, wäre das Projekt eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gescheitert.

Solidarität statt nationaler Alleingänge im neuen GEAS

Für die Zukunft verschließt der künftige Solidaritätsmechanismus die Tür, etwaige Überlastungssituationen im Migrationsmanagement als unerwartete Ereignisse und damit als Rechtfertigung für nationale Alleingänge zu deklarieren, endgültig. Mit der Asyl- und Migrationsmanagementverordnung 2024/1351 (AMMVO) ist künftig ein umfassender Solidaritätsmechanismus vorgesehen, der im Falle kritischer Überlastung der Asylsysteme einzelner Mitgliedstaaten kooperative Lösungen vorsieht. Aufgabe der Kommission ist es, jene Mitgliedstaaten zu identifizieren, die sich in diesen Situationen befinden. Ähnlich wie die Umstände, die allenfalls die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nach Art. 25 Abs. 1 lit. c SGK rechtfertigen, sollte es sich dabei um Situationen handeln, in denen für einen Mitgliedstaat mit gut vorbereitetem Asyl-, Aufnahme- und Migrationssystem durch Einreisen oder Asylanträge von Drittstaatsangehörigen unverhältnismäßige Verpflichtungen entstehen (Migrationsdruck, Art. 2 Abs. 24) bzw. in denen die Mitgliedstaaten die Kapazitätsgrenzen ihrer Asyl-, Aufnahme- und Migrationssysteme erreichen (ausgeprägte Migrationslage, Art. 2 Abs. 25). Auch hier stützt sich die Kommission in ihrer Evaluierung, neben den Berichten der Mitgliedstaaten, auf einschlägige Daten von Unionsagenturen. Im Zentrum des Solidaritätsmechanismus steht daneben die Identifizierung des Bedarfs an Solidaritätsbeiträgen in Form von Übernahmen, finanziellen Mitteln oder alternativen Solidaritätsmaßnahmen, die in weiterer Folge durch ein eigens geschaffenes Organ koordiniert und an Mitgliedstaaten unter Migrationsdruck verteilt werden. Mitgliedstaaten, die sich in einer ausgeprägten Migrationslage befinden, werden ihrerseits von ihren Solidaritätsverpflichtungen ganz oder teilweise entbunden. Unter der AMMVO wird damit  ein Mechanismus geschaffen, der eine kooperative Reaktion auf Überlastungen von Mitgliedstaaten vorsieht, indem die benötigten Unterstützungs- bzw. Solidaritätsleistungen bereits vorab ausverhandelt werden und in der Folge gezielt zugewiesen werden können.

Bereits das bisher bestehende Reglement untersagt den Mitgliedstaaten nationale Alleingänge, soweit sie nicht durch außergewöhnliche und unvorhergesehene Umstände begründet sind, die der Gesetzgeber nicht berücksichtigt hat oder berücksichtigen konnte. In der gegenwärtigen Situation spricht ohnehin nichts dafür, dass die Voraussetzungen für eine zugespitzte Bedrohung der inneren oder äußeren Sicherheit, die im Rahmen der unionsrechtlich vorgesehenen Mechanismen nicht bewältigt werden kann, auch nur im Ansatz vorliegen. Mit dem neuen Solidaritätsmechanismus wird der Raum für unvorhergesehene außergewöhnliche Ausnahmen weiter eingeschränkt. Der Unionsgesetzgeber priorisiert damit konsequent kooperative und solidarische Mechanismen und untersagt nationale Alleingänge.

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