Die Entscheidungen des LG Erfurt zu „Rechten der Natur“ und das richterliche Rollenverständnis
Wenn es um Rechte der Natur geht, hat das Landgericht Erfurt seit kurzem einen Namen: Martin Borowsky. Ich kenne diesen Richter nicht, und wenn ich mich im Folgenden kritisch mit zwei Entscheidungen des Landgerichts Erfurt auseinandersetze, die dieser Richter verantwortet, so (be-)trifft die Kritik zwar letztlich die Person, aber ich meine es nicht persönlich. Dass es so schwierig ist, die im vorhergehenden Satz getroffene Aussage klar und verständlich zu artikulieren, ist gerade das Problem, auf das ich im Folgenden aufmerksam machen möchte. Es berührt den Kern rechtsstaatlicher und demokratischer Bindung der Rechtsprechung.
Das LG Erfurt hat in zwei Entscheidungen zu den sogenannten „Dieselfällen“ der Natur Rechte zugesprochen und diese Inhaberschaft bei der Bemessung von Schadenersatzansprüchen schadenerhöhend in Ansatz gebracht (am 2.8.2024 und am 17.10.2024). Die zweite Entscheidung geht auf die Kritik am ersten Urteil ein. Nachdem das erste Urteil provozierend knapp gehalten war, begründet das zweite Urteil ausführlich, warum das Gericht in solchen Fällen eine Rechtsfortbildung für notwendig erachtet. Die Diskussion dieser Urteile konzentriert sich auf die Frage, ob die Natur denn nun wirklich Rechte hat und welche Rolle diese im Rahmen eines „Dieselfalles“ spielen können (Überblick hier). Es gibt aber noch andere Fragen, die die Entscheidungen aufwerfen. Sie betreffen die professionelle Rolle von Richtern. Reibungspunkte finden sich dabei vor allem in der zweiten Entscheidung. Die einschlägigen Aspekte werden in Deutschland meist nur in den randständigen Foren der Professionssoziologie oder der juristischen Berufsethik behandelt. Die Entscheidungen weisen meines Erachtens darauf hin, dass solche Fragen in Zukunft mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Einzelrichter oder Kammer?
In beiden Entscheidungen hat nicht die zuständige Kammer, sondern der Einzelrichter entschieden. Der Name des Richters ist Presseberichten zu entnehmen. Es stellt sich die Frage, warum die Kammer überhaupt als Einzelrichter entschieden hat. Nach § 348 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist grundsätzlich der Einzelrichter zuständig. Satz 2 sieht Ausnahmen von diesem Grundsatz vor, die vorliegend nicht einschlägig sind. Nach Abs. 3 legt der Einzelrichter den Rechtsstreit der Zivilkammer unter anderem dann zur Entscheidung vor, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 2). Eine solche Vorlage ist jedenfalls im Zusammenhang mit der zweiten Entscheidung erfolgt, mit Verweis darauf, dass ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH durchzuführen sei. Die Kammer hat die Übernahme abgelehnt, wie aus einem Hinweisbeschluss ersichtlich wird (hier in Rn. 63 des Urteils vom 17.10.2024; alle Randnummer beziehen sich im Folgenden auf dieses Urteil).
Beide Urteile bestehen allerdings im Wesentlichen darin darzulegen, dass die Annahmen des Gerichts über den entschiedenen Fall hinausreichen. Die Natur solle nicht nur in diesen beiden Entscheidungen Rechte haben. Die Kommentarliteratur zu § 348 ZPO erläutert, dass gerade das Hinausreichen über den Einzelfall die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache begründet (Stackmann, in: MüKo ZPO, 6. Aufl. 2020, Rn. 15); dies ist etwa bei einer Rechtsfortbildung der Fall (Fischer, in: Vorwerk/Wolf, Beck OK ZPO, 54. Ed. 1.7.2024, Rn. 46). Die Sachen konnten also nicht vom Einzelrichter, sondern mussten von der Kammer entschieden werden. Nach § 348 Abs. 4 ZPO sind Verstöße gegen Abs. 3 nicht rechtsmittelfähig. Rechtlich folgenlos muss der Verstoß jedoch nicht sein. Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nahe. Sie setzt voraus, dass das Verfahrensrecht willkürlich fehlerhaft angewendet wurde (so etwa zur ZPO BVerfGE 29, 45 (48)). Darüber lässt sich sicherlich oft streiten, hier nicht. Ich kann mir mit Blick auf die rechtsfortbildende Statuierung von Rechten der Natur keinen Gesichtspunkt vorstellen, der einer Übernahme der Sache durch die Kammer hätte entgegenstehen können.
Vorlagen an den EuGH
Eine weitere prozessuale Frage, die letztlich ebenfalls in einem personalen Kontext steht, ist, warum keine Vorlage an den EuGH erfolgte. Das LG Erfurt gewinnt seine Erkenntnisse über Rechte der Natur primär aus einer Auslegung der Europäischen Grundrechte-Charta (näher dazu unten). Wie das Gericht selbst bemerkt, wäre es zu einer Vorlage an den EuGH berechtigt gewesen, ohne dazu verpflichtet zu sein. Es weist zudem darauf hin, in anderen Fällen ein solches Verfahren eingeleitet zu haben. Trotzdem leuchtet nicht ein, warum in den nun entschiedenen Fällen keine Vorlage erfolgt ist. Das letztinstanzliche Rechtsmittelgericht – hier wahrscheinlich der Bundesgerichtshof – wäre dazu nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, sollte es dem LG Erfurt folgen wollen. So führt die Unterlassung der Vorlage nur zu einer Verzögerung des Rechtsstreits, die den Justizgewährungsanspruch der Parteien tangiert. Es bleibt die rhetorische Frage, ob der Einzelrichter ohnehin davon ausgeht, dass die Rechtsmittelgerichte seiner Rechtsauffassung nicht folgen werden, so dass sich die Frage des Vorabentscheidungsverfahrens erledigen wird.
Eines der tatsächlich vom LG Erfurt eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren ist noch anhängig. Es betrifft auch die Stellung des Richters. In der Rechtssache C-276/20 (hier mit fehlerhafter Verlinkung der deutschen Fassung) bezweifelt das LG Erfurt – als Einzelrichter –, ob es ein unabhängiges Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV ist. Der vorlegende Richter benennt verschiedene Umstände vor allem in der thüringischen Justiz, die ihm die Unabhängigkeit nehmen würden, und schließt sich der Begründung eines vergleichbaren Vorlagebeschlusses des VG Wiesbaden an. Über diese Vorlage hat der EuGH in der Zwischenzeit entschieden: Unionsrechtlich bestünden keine Bedenken (hier in Rn. 42 ff.). Dem LG Erfurt wird der EuGH sicherlich ebenso antworten. Die beiden offensiven Entscheidungen zu den Rechten der Natur sind eigentlich ein schlagender Beweis dafür, dass das LG Erfurt – als Einzelrichter – wahrhaft unabhängig ist.
Rechtsfortbildung
In der zweiten Entscheidung begründet das LG Erfurt ausführlich, dass eine Rechtsfortbildung nötig ist, um der Natur Rechte zuzuerkennen. Einige Fragen, die hierbei sehr bedeutsam, aber alles andere als einfach zu beantworten sind, werden nur knapp abgehandelt: Anwendbar sei die Grundrechte-Charta nach Art. 51 Abs. 1, weil das europaweit vereinheitlichte Kfz-Zulassungsrecht den Hintergrund des Rechtsstreits bilde (Rn. 93). Die Charta entfalte Bindungswirkung auch zwischen Privaten im Zivilrechtsstreit (Rn. 94). Aus der Charta ergebe sich das umfassende Recht ökologischer Personen auf Erhalt, und die Autorhersteller verstießen gegen dieses Recht, wenn sie unzulässige Abschalteinrichtungen verwenden (Rn. 96). Es komme auf die präventive und abschreckende Wirkung des Schadenersatzes an (Rn. 100).
Die Rechtsfortbildung siedelt das LG Erfurt primär auf der Ebene der Grundrechte-Charta an (Rn. 52). Letztlich sei eine „Gesamtschau“ aus Grundrechte-Charta, Verträgen (EUV/AEUV) und – nicht spezifiziertem – Sekundärrecht vorzunehmen (Rn. 27). Dass sich die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH über die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht greifen lässt, wird in dem Urteil nicht erwähnt. Im Wesentlichen stammt diese Abgrenzung aus der Methodenlehre des deutschen Privatrechts. Der EuGH versteht seine Aufgabe zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV) weit und unterscheidet nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätze spielen dabei eine wichtige Rolle (EuGH, C-46/93 u. C-48/93, Rn. 27). Zur Technik der Rechtsfortbildung, wenn sie denn in der erwähnten „Gesamtschau“ vorzunehmen sein soll, erfährt man vom LG Erfurt nichts: Analogie, teleologische Extension etc.? Eine innereuropäisch wertende Rechtsvergleichung scheide jedenfalls aus, weil „wohl“ nur Spanien solche Rechte anerkennen würde (Rn. 48).
Rechtsfortbildung und Richterrolle
Das Gericht begründet die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung mit seiner richterlichen Verantwortung. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, seien rechtliche Wege aus der Klimakrise zu suchen (Rn. 35). Hier wird besonders spürbar, dass der Einzelrichter mit einem problematischen Rollenverständnis agiert. Er vermengt die institutionelle und die personale Dimension der richterlichen Stellung. Verantwortung ist ein diffuses Konzept. Als Gericht agiert das Gericht allein in der Bindung an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG. Richterliche Verantwortung ist deshalb nur mit Blick auf die personale Stellung des Richters greifbar, insbesondere im Rahmen von Amtspflichten. Solche Pflichten haben die Gesetzesbindung als Gegenstand, bestimmen aber nicht ihren Inhalt. Die Verantwortung des Richters kann nicht in eine institutionelle Pflicht transformiert werden. Als rechtsprechendes Organ – also institutionell – wendet der Richter nur das Recht an. Seine persönlichen Pflichten lassen sich nicht in die Urteilsbegründung einführen.
Diskutabel ist es, das Handeln von Richtern an moralisch begründeten Pflichten zu messen. Das LG Erfurt verweist für das Konzept der richterlichen Verantwortung auf die Dissertation von Udo Schneider (Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, 2017, zur Verantwortung in Rn. 35 und zu den Grenzen der Rechtsfortbildung in Rn. 68). Gerade Schneider kommt insofern jedoch mit plausiblen Erwägungen zu einem skeptischen Ergebnis. Er zeigt, dass angesichts der umfassenden rechtlichen Regelung der Ausübung des Richteramts für eine richterliche Pflichtenethik kein Raum ist. Es ließen sich lediglich bestimmte Tugenden wie Fürsorge, Mitmenschlichkeit oder Sorgfalt begründen, die das Handeln des Richters in der Erfüllung seiner rechtlichen Pflichten anleiten sollten.
Erkennbar wird zudem ein problematisches Verständnis des Rechts, wenn vom LG Erfurt Vertrauen „auf die verändernde Kraft des Rechts“ angemahnt wird – unter Verweis auf Ratgeber dazu, wie mit den Mitteln des Rechts die Welt verändert werden kann (Rn. 40). Politischen Aktivisten steht es zu, ein solches instrumentelles Verständnis des Rechts zu praktizieren, aber nicht Richtern in ihrer Rolle als Richter. Einige Ziele werden im Übrigen benannt: zwar nicht die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, aber dessen „Zähmung und Einhegung“ (Rn. 63). Sicherlich ist eine ökologisch motivierte Transformation marktwirtschaftlicher Strukturen essenziell, um den Klimawandel zu bewältigen. Aber ich bezweifele, dass ein Richter diese politische Zielsetzung als tragende rechtliche Erwägung verwenden kann.
Zu den Grenzen der Rechtsfortbildung bemerkt das Gericht, dass es „vorzugswürdig und wünschenswert“ sei, Rechte der Natur im Wege einer Vertragsreform oder der Gesetzgebung einzuführen (Rn. 67). Aber eine „vorausgehende richterliche Anerkennung“ sei gleichwohl nicht unzulässig. In anderen Staaten würden Gerichte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Das sagt aber nun einmal nichts aus über den Kontext der europäischen und deutschen Rechtsordnung. Die europäische Rechtsordnung sei von Richterrecht geprägt, gerade mit Blick auf den EuGH (Rn. 68). Dass das LG Erfurt hier den EuGH als aktives Gericht aufführt, ist geradezu paradox, wenn es – wie oben ausgeführt – zugleich eine Vorlage unterlässt. Eine so grundstürzende Innovation wie diejenige, dass „die“ Natur Rechte habe, kann nach deutschem Verständnis kein Gericht einführen. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass der EuGH in einer dunklen Stunde ähnlich verfahren würde wie das LG Erfurt. Aber auch das sollte man doch dem EuGH überlassen.
Stil
Das zweite Urteil ist weitgehend im Duktus eines wissenschaftlichen Aufsatzes geschrieben (dem es an Struktur und Stringenz fehlt). Dass der Einzelrichter die eigene Kommentierung zur Grundrechte-Charta zitiert, löst die üblichen Störgefühle aus, die sich in solchen Fällen einstellen. Eine Entgleisung ist es, wenn das Gericht die Notwendigkeit, richterliche Verantwortung wahrzunehmen, damit begründet, dass Max Weber sich für eine Verantwortungsethik ausgesprochen habe – und er sei ja ein Erfurter gewesen (Rn. 35). Man kann darüber schmunzeln, dass hier ein Heidelberger – denn dort verorten wir Weber geistig und kulturell – lokalpatriotisch für die Stadt Erfurt vereinnahmt werden soll, nur weil er dort die ersten fünf Jahre seines Lebens verbracht hat: In ein Urteil gehören solche Erwägungen nicht.
Fazit
Martin Borowsky hat – ob richtig oder falsch – entschieden. Die üblichen Mechanismen, die absichern, dass ein Gericht als Gericht und nicht als Person oder Personengruppe spricht, werden in den Entscheidungen zu den „Rechten der Natur“ nicht in hinreichendem Maße aktiviert. Wer richterliche Unabhängigkeit in Anspruch nehmen möchte, muss als Richter agieren. Oder zugespitzt: Wer zu viel Unabhängigkeit in Anspruch nimmt, ist nicht mehr Richter.
Dass der Fall die thüringische Justiz betrifft, verleiht ihm eine besondere Note. Die Verfassungsverhältnisse in diesem Land stehen derzeit aus gutem Grund unter besonderer Beobachtung. Diejenigen, die heute den Mut thüringischer Richter feiern, werden ihn vielleicht morgen schon beklagen.
Oder ist alles vielleicht ganz anders? Kann man noch die Geschichte erzählen, dass Richter in ihrem Amt als neutrale Amtsträger handeln und nicht als Personen, die in der politischen Auseinandersetzung stehen? Justizjuristen sehen sich offenbar stärker als früher als Gestalter des sozialen Zusammenhalts (dazu Berthold Vogel hier). Rechte Richter beschäftigen zunehmend die Justiz selbst. Dass Richter nur auf der Grundlage von principles, nicht policies entscheiden, sagt der politische Liberalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (konkret: Ronald Dworkin), der seinerseits unter spezifischen sozialen und politischen Bedingungen entstanden ist. Aber: Ein Blick nach Polen oder Ungarn belehrt uns schnell, dass der Wert unabhängiger Gerichte, die von politischen Zielsetzungen frei sind und sich der internen Moralität des Rechts (Lon L. Fuller) bewusst sind, nach wie vor unschätzbar ist.