Fünf Fragen an Laurenz Ennser-Jedenastik
Österreich hat letzten Sonntag den Nationalrat gewählt. Die rechte Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) wurde stärkste Kraft und erzielte damit ihr historisch bestes Ergebnis. Um die Wahl einzuordnen, haben wir mit dem Experten Laurenz Ennser-Jedenastik gesprochen. Er ist Professor für österreichische Politik im europäischen Kontext am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.
1. Wer hat die FPÖ gewählt und warum?
Die FPÖ wird vor allem von Leuten gewählt, die Zuwanderung und die Europäische Integration sehr negativ sehen, die die Covid-19-Maßnahmen der vergangenen Jahre für stark übertrieben und ungerecht halten und Klimaschutzmaßnahmen ablehnen. Zudem hängen FPÖ-Wähler:innen stärker als andere bestimmten Verschwörungsmythen an und halten die Sanktionspolitik gegenüber Russland für schädlich. Bei vielen dieser Fragen (Russland, Covid, Anti-Klimaschutz) hat die FPÖ in den letzten Jahren eine Monopolstellung im Parteiensystem eingenommen. Keine andere Partei vertritt diese Positionen mit derselben Konsequenz, wenn überhaupt. Insofern gibt es eine größere Gruppe an Wähler:innen, die von der FPÖ in ihren Interessen besser vertreten werden als von jeder anderen Partei. Die Covid-Pandemie und die steigende Bedeutung von Klimaschutzpolitik haben diese Effekte noch einmal verfestigt.
2. Was ist an der Wahl bemerkenswert?
Im Grunde war das eine für österreichische Verhältnisse ganz normale Wahl. Wenn man die Einstellungen der Bevölkerung zu wichtigen politischen Fragen betrachtet, dann passt dieses Wahlergebnis sehr gut dazu.
Interessant ist vielleicht, dass wir im Wahlverhalten ein massives Stadt-Land-Gefälle beobachten können. Das ist nicht ganz neu, hat sich aber in seinem Charakter verändert: Mittlerweile ist die FPÖ im ländlichen Raum deutlich stärker als im städtischen – was bis vor einigen Jahren noch nicht so deutlich zu sehen war.
Wenn man die Stimmenverschiebungen anschaut, war 2024 eine Wahl in zwei Welten. Im ländlichen Bereich fallen die ÖVP-Verluste und FPÖ-Gewinne viel dramatischer aus als im städtischen Bereich. In urbanen Gebieten wiederum sind die Verluste der Grünen deutlich stärker als anderswo. Dafür legt dort die SPÖ sogar zu, während sie in ländlichen Bereichen stagniert oder leicht verliert.
3. Ist die Nationalratswahl eine Blaupause für die deutsche Bundestagswahl?
Radikal rechte Parteien erstarken in ganz Europa und darüber hinaus. Das hat sich in Österreich letzten Sonntag gezeigt und ich wäre sehr überrascht, wenn die kommende Bundestagswahl eine Ausnahme davon wäre. Zugespitzt könnte man im Erstarken der AfD eine fortschreitende „Verösterreicherung“ des deutschen Parteiensystems feststellen – aber das ist mehr ein Fortschreiben eines gesamteuropäischen Trends. Der wichtigste Unterschied zwischen AfD und FPÖ ist und bleibt aber, wie sich die Mitte-Rechts-Parteien in den beiden Ländern, also ÖVP und CDU/CSU, ihnen gegenüber verhalten.
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4. Ein weiterer Unterschied ist auch, dass die FPÖ wesentlich älter ist als ihre europäischen autoritär-populistischen Parteischwestern. Welche Strategie hat sich gegenüber der FPÖ historisch bewährt: Brandmauer oder Mitregieren?
Weder die eine noch die andere Strategie hat dauerhaft dazu geführt, dass die FPÖ an Zuspruch verloren hätte. Während der 1990er-Jahre gab es ein striktes Nein aller anderen Parteien zu einer Regierungsbeteiligung der FPÖ auf Bundesebene. In dieser Zeit war die FPÖ dennoch bei Wahlen sehr erfolgreich. Nach Regierungsbeteiligungen hat die FPÖ zwar mehrmals massiv Stimmen verloren (2002, 2019), aber das lag vor allem an Skandalen (Ibiza) oder parteiinternen Konflikten, die zum Koalitionsbruch führten. Es gibt in der Bevölkerung einfach eine starke Nachfrage nach den inhaltlichen Positionen der FPÖ. Die wird sich auch durch das Verhalten der anderen Parteien nicht massiv ändern.
5. Am 24. Oktober steht die konstituierende Sitzung des Nationalrats an. In Deutschland hat die AfD erst letzte Woche die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags genutzt, um, man kann es nicht anders bezeichnen, ein antidemokratisches Theaterstück aufzuführen. Wie glauben Sie geht es jetzt in Österreich weiter?
Der nächste Schritt ist, dass die Parteien in Sondierungsgespräche eintreten. Politischer Tradition folgend erteilt dann der Bundespräsident dem bzw. der Vorsitzenden der mandatsstärksten Partei den Auftrag zur Regierungsbildung – was aber eine Konvention, keine verfassungsgemäße Vorgabe ist. Diese Person versucht dann, eine Mehrheit für eine Koalitionsregierung zu finden. Wenn das klappt, wird der/die Bundeskanzler:in dann vom Bundespräsidenten ernannt und danach die Minister:innen ebenso.
Nachdem der Bundespräsident kein großer Freund des aktuellen FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl ist, ist offen, wie dieser Prozess ablaufen wird. Womöglich gibt es einen Regierungsbildungsauftrag für Kickl, vielleicht wird aber auch ohne einen solchen Auftrag verhandelt. Theoretisch könnte nach den ersten Sondierungen auch jemand anderer mit der Regierungsbildung beauftragt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass die ÖVP – die einzige Partei, die eine Koalition mit der FPÖ nicht von vornherein ablehnt – sich darauf festgelegt hat, nur ohne Kickl eine Koalition mit der FPÖ schmieden zu wollen. Die FPÖ hat das wiederum ausgeschlossen. Wenn alle bei ihrem Wort bleiben, dann kommt im Prinzip nur eine Koalition ohne FPÖ infrage, das wäre wohl am ehesten eine Zusammenarbeit von ÖVP, SPÖ und einer dritten Partei (Neos oder Grüne).
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Editor’s Pick
von MAXIM BÖNNEMANN
Widersprechen, stören, träumen: Ich habe diese Woche Samira Akbarians „Recht brechen: Eine Theorie des zivilen Ungehorsams“ gelesen. Das Buch arbeitet ebenso präzise wie sprachlich elegant drei Konzeptionen des zivilen Ungehorsams heraus – eine rechtsstaatliche, eine radikaldemokratische und eine ethische. Akbarian zeigt dabei nicht nur, warum der Verfassung und ihrer Interpretation hierbei eine zentrale Rolle zukommt, sondern auch, warum nicht jede Aktion zivilen Ungehorsams für sich in Anspruch nehmen kann, eine demokratisch-rechtsstaatliche Funktion zu erfüllen. Eine rechtsphilosophische Intervention zur rechten Zeit. Samira Akbarian, Recht brechen: Eine Theorie des zivilen Ungehorsams, 2024, 172 S., C.H.Beck Paperback.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER
Angesichts der vielen BVerfG-Entscheidungen dazu, was Sicherheitsbehörden dürfen und was nicht, kann man leicht den Überblick verlieren. Das geht anscheinend auch den Behörden selbst so. Schon 2016 machte das BVerfG dem Bundeskriminalamt detaillierte Vorgaben zur Datenspeicherung und -verarbeitung, doch viel getan hat sich seitdem nicht, wie LENNART LAGMÖLLER (DE) kritisiert.
Also musste das BVerfG wieder ran: Mit seinem Urteil vom 1. Oktober 2024 hat es nun wieder Teile des Bundeskriminalamtsgesetzes für verfassungswidrig erklärt – darunter eine Befugnis zur Speicherung von Daten im polizeilichen Informationsverbund INPOL. SEBASTIAN J. GOLLA (DE) fasst das Wichtigste zusammen. Bis Juli 2025 muss der Gesetzgeber nachschärfen.
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Die Bewerbungsfrist (Kennz. 3024) läuft bis zum 25. Oktober 2024. Wir freuen uns auf Ihre aussagekräftige Bewerbung.
Die Universität Speyer im Internet: http://www.uni-speyer.de
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Nachdem sich die AfD in der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags wenig demokratisch präsentierte, nimmt die Debatte um ein Parteiverbot wieder Fahrt auf. Nun wollen Bundestagsabgeordnete beim BVerfG einen entsprechenden Antrag stellen. Doch der Antrag stehe vor einer besonderen prozessualen Herausforderung: dem sogenannten „Gebot strikter Staatsfreiheit“. TILL PATRIK HOLTERHUS (DE) zeigt, was diese Herausforderung bedeutet und wie sie sich – mit rechtlicher Kreativität und Risikobereitschaft – meistern ließe.
Nicht nur in Thüringen, auch in Brandenburg herrscht nach den Landtagswahlen Katerstimmung. Die in Brandenburg rühre auch daher, dass viele Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert seien, analysiert THORSTEN KINGREEN (DE). Er sieht einen größeren Trend und findet, es sei an der Zeit, darüber zu reden, ob eine 5 % Sperrklausel noch Sinn macht.
Starre Hürden beschäftigten auch das BVerfG mit der Verfassungsbeschwerde mehrerer Frauen, die eine Fehlgeburt nach der 12., aber vor der 24. Schwangerschaftswoche erlitten hatten, und deshalb keinen Mutterschutz bekamen. Das Gericht hielt die Beschwerde für unzulässig und ließ damit die zentrale Frage offen, ob das MuSchG Frauen nach einer Fehlgeburt von Verfassungs wegen schützen muss. NICOLE FRIEDLEIN (DE) geht dieser Frage nach und kommt zu dem Ergebnis, dass die aktuelle Schutzfristregelung des MuSchG gegen den Gleichheitssatz verstößt. Zwar sei eine verfassungskonforme Auslegung möglich, doch um Betroffene effektiv zu schützen, solle der Gesetzgeber das MuSchG reformieren.
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Auf europäischer Ebene ließ sich diese Woche in drei sehr unterschiedlichen Kontexten diskutieren, was man mit Geld kaufen kann:
Wenn es um die Staatsangehörigkeit geht, ist die Sache klar, zumindest für die Europäische Kommission: Die hat im März Malta verklagt, weil die Republik Menschen einbürgert, die in ihr investieren. Malta hält den EuGH für nicht zuständig. PATRICK WEIL (EN) kauft das nicht: Der EuGH sei zuständig, weil Maltas „Individual Investor Program“ die Menschenwürde aus Artikel 1 der EU-Grundrechtecharta verletze. Staatsbürgerschaft sei eben keine Ware, sondern verleihe rechtliche Subjektivität – und damit die zentrale Bedingung, um europäischen Bürger:innen Menschenwürde zu gewährleisten.
Weniger klar ist die Frage im Kontext von Sexarbeit. In seiner Entscheidung M.A. and Others v. France hat der EGMR das französische Sexkaufverbot („Nordisches Modell“) als EMRK-konform abgesegnet. Für SILVIA STEININGER (EN) zeige sich der Gerichtshof nicht nur intersektional blind, sondern widerspreche auch den jüngsten Vorschlägen zu einem „menschenrechtsbasierten Ansatz für Sexarbeit“, die nicht zuletzt der Menschenrechtskommissar des Europarats unterstützt.
Und schließlich gibt es noch die Variante Geld gegen Rechtsstaatlichkeit, die die EU mit ihrer Konditionalitätsverordnung austestet. Im Medel-Beschluss des EuG geht es konkret um Geld für Polen aus dem historisch größten europäischen Fördertopf. Der Beschluss fliegt unter dem Radar, obwohl darin viel Interessantes steckt: nicht nur die ewige Frage des Individualrechtsschutzes vor EU-Gerichten, sondern – interessanter noch – die Frage, wie sich die Werte der EU wirksam verteidigen lassen. MATTIS LESON (DE) hat sich den angeschaut, was der Beschluss für Solidarität, Rechtsstaatlichkeit und den europäischen Haushalt bedeutet.
Schließlich ein Blick nach Lateinamerika: Dort hat die Interamerikanische Menschenrechtskommission in einer Resolution anerkannt, dass Wahlbeobachter:innen Menschenrechte verteidigen. Das ist bemerkenswert, weil daraus konkrete staatliche Pflichten folgen, wie ALEJANDRO TULLIO (EN) schildert: Die Staaten müssen Wahlbeobachtung gewährleisten, indem sie sich nicht einmischen und die Wahlbeobachter:innen vor Risiken schützen, offline wie online.
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Das wäre es für diese Woche! Ihnen alles Gute
Ihr
Verfassungsblog-Team
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