Eine Untersuchung anhand der ewigen Diskussion um den einheitlichen Pflichtfachstoffkatalog
Die Diskussion um eine Reform der juristischen Ausbildung ist quick so alt wie die juristische Ausbildung selbst. Doch jedes Mal, wenn die Reform berechtigterweise auf der Tagesordnung politischer Gespräche steht, ist das Ergebnis quick schon festgeschrieben: So richtig zufrieden ist niemand, aber eine wirkliche Reform ist von den Entscheidungsträger:innen nicht erwünscht. Dieses Phänomen zeigte sich auch beim letzten Beschluss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister (JuMiKo) zur volljuristischen Ausbildung erneut auf eindrucksvolle Weise. Dabei ist die Dysfunktionalität der derzeitigen Ausbildung mittlerweile ein konkretes Drawback für die deutsche Justiz: In den kommenden Jahren gehen in mehreren Bundesländern knapp zwei Drittel der Richter:innen und Staatsanwaltschaft sowie große Teile der Anwält:innenschaft in den Ruhestand – gleichzeitig geht die Zahl der Studierenden zurück, ebenso wie die Anzahl erfolgreicher Absolvent:innen der ersten Prüfung. Die derzeitige juristische Ausbildung trägt damit maßgeblich zu den kommenden Mangelerscheinungen der Rechtspflege bei.
Vor diesem Hintergrund ist dringend ein Umdenken der Politik notwendig, um eine juristische Ausbildung zu gestalten, die attraktiv und zukunftsfähig ist. Wie ein solches Umdenken herbeigeführt werden könnte, soll im Folgenden am Beispiel der Entstehung und der Kritik am aktuellen Pflichtfachstoffkatalog skizziert werden. Hierbei wird insbesondere auch eine langfristige Möglichkeit aufgezeigt, wie das Narrativ der „Reformunfähigkeit“ überwunden werden kann. Denn nur so können wir eine differenziertere Diskussion über Reformen in der juristischen Ausbildung führen, welche bestenfalls nicht mehr in der endlosen Uneinigkeit über diese endet.
Die Entwicklung des einheitlichen Pflichtfachstoffkatalog
Die Inhalte der staatlichen Pflichtfachprüfung festzulegen ist zwar – wie ein Großteil der Regelungen in der juristischen Ausbildung – Länderkompetenz, erfolgte jedoch in den letzten Jahren größtenteils bundeseinheitlich. Diese Angleichung beruht auf den Anstrengungen seit den 2010-er Jahren, die juristische Ausbildung weitgehend zu harmonisieren, um länderübergreifende Chancengleichheit und Qualität sicherzustellen. Hinsichtlich des Pflichtfachstoffes beschloss die JuMiKo im Herbst 2014, dass sich der Ausschuss zur Koordinierung der Juristenausbildung (KOA) mit einer Harmonisierung und Begrenzung beschäftigen solle. Der KOA erarbeitete entsprechend bis zur Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister im Jahre 2016 eine Empfehlung für einen einheitlichen Pflichtfachstoffkatalog. Dieser wurde nach weiteren Änderungen, die auf dem Austausch mit Interessensgruppen, wie insbesondere dem Deutschen Juristen-Fakultätentag e.V. (DJFT) beruhen, im Herbst 2017 von der JuMiKo mit der Empfehlung der Umsetzung in den einzelnen Ländern verabschiedet.
Die Verabschiedung des einheitlichen Pflichtfachstoffkatalogs conflict für die juristische Ausbildung in Deutschland ein bedeutender Schritt. Hier begann die Entwicklung, in der sich die Länder bei der Reform ihrer Pflichtfachstoffe am einheitlichen Katalog orientierten. So nahmen sie von bestimmten Eigenheiten, beispielsweise speziellen Rechtsgebieten wie dem Wasserrecht in Bayern als Prüfungsgegenstand, Abstand. Diese Entwicklung und weitere Harmonisierungsbestrebungen waren und sind nicht nur vor dem Auftrag des § 5d Absatz 1 Satz 2 DRiG, einheitliche Prüfungsanforderungen zu gewährleisten, ausdrücklich zu begrüßen.
Dennoch wurde der einheitliche Pflichtfachstoff seit seiner Verabschiedung immer wieder kritisiert: So bemängelten beispielsweise der DJFT oder der Deutscher Juristinnenbund e.V. (djb) den von der JuMiKo beschlossenen Katalog. Zudem wird dem KOA vorgeworfen, bei der Ausarbeitung des Pflichtfachstoffkatalogs vor den Interessen einzelnen Fachgruppen, die mit besonderen Anstrengungen für ihre Fachgebiet lobbyiert haben, kapituliert zu haben. Dies habe zur Folge, dass der Pflichtfachstoffkatalog doch wieder größer wurde als eigentlich beabsichtigt. Bei diesem Vorwurf wird als Beispiel oft das internationale Privatrecht angebracht, welches nach der Empfehlung des KOAs von 2016 – vor dem öffentlichen Pflichtfachstoffdiskurs – nicht Bestandteil des Pflichtfachstoffes sein sollte. Im finalen Pflichtfachstoffkatalog des KOAs von 2017 wurde es jedoch „im Überblick“ Bestandteil (vgl. Bericht des KOAs 2017, S. 4).
Weiterreichende Kritik am aktuellen Pflichtfachstoffkatalog
Die Kritik an der aktuellen Ausgestaltung des Pflichtfachstoffkatalogs ist seit der Verabschiedung 2017 nur lauter und diverser geworden. So empfanden laut der aktuellen bundesweiten Absolvent:innenbefragung des Bundesverbands rechtswissenschaftlicher Fachschaften e.V. (BRF) 76,30 % der befragten Absolvent:innen den Pflichtfachstoff als zu umfangreich (vgl. Fünfte bundesweite Absolvent:innenbefragung, S. 79). Dieser große Stoffumfang löst bei den Studierenden eine noch höhere psychische Belastung in der Vorbereitungszeit auf die staatliche Pflichtfachprüfung aus, welche gesundheitsgefährdende Ausmaße annehmen kann (vgl. Abschlussbericht JurSTRESS, S. 26).
Zudem läuft der aktuell große Umfang des Pflichtfachstoffes dem eigentlichen Ziel der juristischen Ausbildung – dem:der Einheitsjurist:in – entgegen. Denn die aktuelle Stofffülle und der damit verbundene Mangel an Zeit für eine vertiefte Auseinandersetzung verleitet die Studierenden zum Auswendiglernen gewisser Probleme statt – wie gewünscht – dem Erlernen des juristischen Handwerkszeugs. Diese und weitere Kompetenzen, wie die Methodenkompetenz oder die kritische Auseinandersetzung mit Recht, kommen in der aktuellen Ausbildung schlichtweg zu kurz, obwohl sie für den späteren Berufsalltag essenziell sind. Schließlich können angehende Jurist:innen nicht die gesamte rechtswissenschaftliche Materie im Studium erlernen, sondern werden auch später in der Praxis mit unbekannten Rechtsgebieten konfrontiert und müssen sich in deren Systematik einarbeiten.
Auffällig ist, dass diese Kritik nicht mehr nur von Auszubildenden und weiteren reformfreudigen Gruppen getragen wird, sondern mittlerweile einheitlich von großen Teilen der Stakeholder:innen in der juristischen Ausbildung. So forderte beispielsweise die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) bei der Reform des Juristenausbildungsgesetzes Nordrhein-Westfalen 2020 eine weitere Reduktion des Pflichtfachstoffes. Weiter forderten neben dem BRF und Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e. V. (iur.reform) im Dezember 2023 mehrere Dekan:innen, Professional- und Studiendekan:innen verschiedener deutscher Fakultäten bzw. Fachbereiche im Hamburger Protokoll die die Reduktion des Pflichtfachstoffes der staatlichen Pflichtfachprüfung. Dies ist besonders bemerkenswert, da sich die Fakultäten bzw. Fachbereiche – gesammelt im DJFT – 2017 noch für einen möglichst breiten Pflichtfachstoffkatalog aussprachen. Dieses Umdenken ist aus einer objektiven Sicht jedoch nicht allzu verwunderlich, denn der Pflichtfachstoff (der staatlichen Pflichtfachprüfung) wächst auch ohne Änderung der Ausbildungsgesetze und -verordnungen regelmäßig weiter. So wird durch neue Rechtsprechung und nationale sowie internationale Regelungen der prüfungsrelevante Stoff immer umfangreicher, obwohl klar ist, dass dies von einer Mehrheit nicht gewünscht ist (vgl. iur.reform-Studie, S. 644 ff.)
Die „Unreformierbarkeit“ des Pflichtfachstoffkatalogs und der juristischen Ausbildung
Die Unzufriedenheit und Kritik am aktuellen Pflichtfachstoffkatalog sind additionally groß. Eine wirkliche Reform oder zumindest eine Überprüfung der Aktualität der Inhalte auf staatlicher Seite – wie bei vielen der Kritikpunkte an der aktuellen juristischen Ausbildung – ist jedoch nicht geplant. Stattdessen verweisen staatliche Stellen der Ländern in Gesprächen immer öfter unreflektiert auf den KOA-Bericht in Vorbereitung auf den JuMiKo-Beschluss von 2017 und die damit verbundenen Anstrengungen. Dieser Versuch, der inhaltlichen Kritik möglichst einfach auszuweichen, findet sich auch in der Begründung zur Novellierung der Juristenausbildungsverordnung in Schleswig-Holstein wieder. Weiter wird behauptet, dass durch eine weitere Reduktion der:die Einheitsjurist:in in Gefahr sei, wobei – wie oben gezeigt – gerade das Gegenteil der Fall ist. Und selbst wenn einzelne Länder einen grundsätzlichen Reformwillen und Einsicht bezüglich der Probleme des Pflichtfachstoffs haben, wird aufgrund des erzeugten Harmonisierungszwangs nicht in Erwägung gezogen, den Pflichtfachstoffkatalog eigenständig zu überarbeiten. Länderübergreifende Überlegungen scheitern an den reformunwilligen Ländern. So erscheint Pflichtfachstoffkatalog – wie viele Reformthemen in der Ausbildung – als „in Stein gemeißelt“.
Im Großen und Ganzen herrscht bei vielen Entscheidungsträger:innen in der juristischen Ausbildung – trotz vieler großer Baustellen – Reformträgheit. Diese Trägheit wird zusätzlich von überholten Entscheidungsstrukturen innerhalb des föderalen Techniques gestützt. Für wirkliche nachhaltige Veränderungen, wie beispielsweise beim Pflichtfachstoffkatalog, braucht es folglich andere Beratungs- oder gar Entscheidungsstrukturen. Diese müssen unabhängig verschiedene Perspektiven in den Blick nehmen, indem beispielsweise Auszubildende, Ausbilder:innen, Justizprüfungsämter sowie Praktiker:innen in einem Stakeholder:innenprozess einbezogen werden, sodass tatsächliche Konsenslösungen gefunden werden können. Selbst eine solche Reform der Beratungs- und Entscheidungsstrukturen lehnen die aktuellen Entscheidungsträger:innen jedoch konsequent ab.
Austausch als erster Schritt für eine aufgeklärte Reformdebatte
Ohne den Teufelskreis der Reformträgheit von Entscheidungsträger:innen zu brechen, scheint eine tiefergehende – und wünschenswerte – Reformdebatte additionally gar unmöglich. Und dass, obwohl die Unzufriedenheit und Kritik an der juristischen Ausbildung an den Hochschulen und darüber hinaus groß sind. Diese Grundhaltung kommt bei den Entscheidungsträger:innen in den Justizministerien und Justizprüfungsämtern größtenteils jedoch nur durch die Interessensvertretungen an, die immer wieder als Pessimist:innen abgestempelt werden. An einem weiteren Austausch zwischen Studierenden und den Prüfenden in den Justizprüfungsämtern fehlt es in der Regel.
Anders als bei vielen anderen Studiengängen erfolgt der erste Kontakt der Studierenden mit dem Großteil der Prüfenden nicht direkt in den ersten Semestern im heimischen Hörsaal, sondern meist erst deutlich später und durch einen recht formalen Akt: der Meldung beim zuständigen Justizprüfungsamt. Diese Besonderheit der juristischen Ausbildung hat ihre klaren Vorteile, was zum Beispiel die Chancengleichheit angeht. Jedoch wird hier auch eine künstliche Trennung zwischen Studium und staatlicher Pflichtfachprüfung erzeugt, welche den regelmäßigen Austausch verhindert und ein ganzheitliches Denken der Ausbildung bis zur ersten, geschweige denn bis zur zweiten (Staats-)Prüfung deutlich hemmt. Diese Trennung zwischen universitärer und staatlicher Ausbildung wird bisher oft nur vereinzelt durchbrochen, indem beispielsweise JPA-Mitarbeitende Vorlesungen an den Hochschulen halten oder Studierende sich vorzeitig mit Fragen ans Justizprüfungsamt wenden.
Für eine aufgeklärte Reformdebatte ist aber mehr Kontakt zwischen den Beteiligten notwendig, um die Auffassungen und Scenario des Gegenübers nachhaltig zu verstehen. So sollten die Justizprüfungsämter beispielsweise offener an den Hochschulen kommunizieren, was im Pflichtfachstoff enthalten ist, was bei Prüfungsgegenständen, die „im Überblick“ Bestandteil des Pflichtfachstoffes sind, erwartet wird, wie der mündliche Teil der staatlichen Pflichtfachprüfung abläuft oder einfach nur für Fragen an den Hochschulen erreichbar sein. Denn durch die Aufklärung und die Erreichbarkeit vor Ort kann den Studierenden ein Teil ihrer berechtigten Angst genommen werden. Gleichzeitig wirkt es kommerziellen Interessen innerhalb der juristischen Ausbildung, wie beispielsweise denen privater Repetitorien, entgegen. Auch eine ausführlichere und empathischere Begründung der Entscheidungen von Entscheidungsträger:innen hat Potential, um ihren Entscheidungen mehr Akzeptanz zu verleihen und sie besser nachvollziehbar zu machen.
Klar ist jedoch auch, dass solche Maßnahmen niemals die notwendigen Reformen in der Ausbildung ersetzen werden. Sie sind nur ein erster Schritt, um die zwangsläufige Reformdebatte auf Augenhöhe und mit Blick auf die Realität an den Hochschulen zu führen. Denn das Drawback der Reformträgheit besteht zum Teil auch in dieser Realitätsferne: Wenn den Entscheidungsträger:innen in den Justizprüfungsämtern nicht bewusst ist, dass das Schreiben auf liniertem statt auf Blankopapier für Studierende angenehmer ist oder die Notwendigkeit von Diversität in der juristischen Ausbildung anzweifeln, arbeiten diese an der Realität der Studierenden deutlich vorbei. Legt man diese und ähnliche Beispiele zugrunde, wird quick verständlich, warum die große Reformbedürftigkeit der Ausbildung nicht gesehen wird.
Ist die juristische Ausbildung wirklich unreformierbar?
Wenn man jetzt fragt, ob die juristische Ausbildung bei diesen realitätsfernen Entscheidungsstrukturen überhaupt reformierbar ist, muss man allein der Zukunft unseren Rechtsstaat willens mit „Ja“ antworten. Aber auch darüber hinaus gibt es einige Gründe für Optimismus: Die Zahl der Befürworter:innen von größeren Reformen in der Ausbildung wächst. Durch die Arbeit von Interessenvertretungen können sich auch die Justizprüfungsämter immer weniger der Realität an den Hochschulen entziehen, sodass auch bei ihnen – hoffentlich – die Baustellen innerhalb der juristischen Ausbildung, wie der zu umfangreiche Pflichtfachstoffkatalog, immer offensichtlicher werden. Aus dieser Erkenntnis müssen dann angemessenere Beratungs- und Entscheidungsstrukturen für Reformthemen der juristischen Ausbildung geschaffen werden.
Um die bestehenden Reformvorschläge tatsächlich umzusetzen, bedarf es eines intensiven und ständigen Austausches mit den Entscheidungsträger:innen, neue Beratungsstrukturen und den politischen Willen, tatsächlich Veränderungen anzustoßen. Denn nur so lässt sich die vorherrschende Reformträgheit in der juristischen Ausbildung überwinden.