Jenseits geltenden Rechts – Verfassungsblog – Go Health Pro

Zu den aktuellen migrationspolitischen Vorschlägen der CDU

Der Deutsche Bundestag hat gestern die von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegten „Fünf Punkte für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“ verabschiedet. Für besonders viel Aufsehen sorgte dabei, dass damit erstmals in der Geschichte des Deutschen Bundestags ein Antrag mit den Stimmen einer autoritär-populistischen Partei zustande gekommen ist. Noch nicht genug Aufmerksamkeit erhält dagegen die rechtliche Dimension des Antrags. Der Antrag wirft nicht nur grundlegende Fragen etwa in Bezug auf die dauerhafte Inhaftnahme ausreisepflichtiger Personen auf, sondern erhebt sich in Teilen offen über geltendes Recht.

Dysfunktionalität als Basis des Fünf-Punkte-Plans

Der Entschließungsantrag stützt sich neben rechtlichen Forderungen auf eine Reihe von Feststellungen. Der für die weitere Argumentation bedeutsamste Satz lautet dabei: „Die bestehenden europäischen Regelungen – die Dublin-III-Verordnung zur grundsätzlichen Zuständigkeit des Ersteinreisestaats, das Schengen-Abkommen zu den offenen Binnengrenzen, und die Eurodac-Verordnung zur Registrierung von Asylsuchenden – sind erkennbar dysfunktional.“ Auch Angela Merkel hatte die Dublin-Regelungen als dysfunktional bezeichnet, daraus aber andere Schlussfolgerungen gezogen (so auch jetzt wieder). Deshalb erscheint es zunächst wichtig, die Tragfähigkeit der Argumentation an diesem Ausgangspunkt zu überprüfen.

Wenn durch den Antrag die Dysfunktionalität der Dublin-III-VO daraus abgeleitet wird, dass grundsätzlich der Einreisestaat zuständig ist, so spricht das zunächst für die Annahme, dass diese Staaten überlastet sind und deshalb im Rahmen von Solidaritätsmaßnahmen ein Teil dieser Lasten durch andere Staaten zu übernehmen ist, etwa durch Deutschland. Wenn es dafür keinen funktionierenden Mechanismus gibt, so die Annahme hinter der Dysfunktionalitätsthese, werde die Kompensation durch eine rechtswidrige Sekundärmigration im Wege einer Selbstkorrektur vorgenommen. Darin liegt eine Folgedysfunktionalität, die wiederum zu einer Überlast in Deutschland führe. Deren Korrektur werde durch Obstruktion in Gestalt der Nichtwirkung bei der Überführung in den zuständigen Staat verhindert. Hieraus entsteht die dritte Dysfunktionalität.

Es stellt sich nun die Frage, ob es legitim ist, die Maßnahmen nur auf die dritte Dysfunktionalität zu stützen, dabei die vorausgehenden zu ignorieren und zugleich den ersten Korrekturmechanismus zu unterbinden. Denn dies würde in den Erstaufnahmestaaten letztlich das systemische Versagen verstärken, das einer Überführung entgegensteht. Diese Gedankenkette zeigt, dass in der Logik von Vergeltung, die dem Plan insoweit zugrunde liegt, kein Zustand erreicht werden kann, der die grundlegenden strukturellen Probleme löst, wie dies bei der GEAS-Reform immerhin im Ansatz zu erwarten ist. Deshalb führen die Grenzschließungen nur noch tiefer in die Logik nationaler Alleingänge hinein und sind auch für Deutschland letztlich kein Ausweg.

Die bestehenden Kontrollen an den Binnengrenzen als dysfunktional zu bezeichnen, ist ebenfalls in dieser Allgemeinheit nicht überzeugend. Immer wieder wurde in den letzten Jahren und Monaten durch Sicherheitsexperten und Vertreter der EU-Kommission betont, dass die Schleierfahndung effektiver ist als stationäre Grenzkontrollen, die von Kriminellen leicht umgangen werden können. Auch hier stellt sich die Frage, wo diese Einsicht in der Argumentation des Antrags verarbeitet und widerlegt worden ist. Aus dem Begründungstext ist das nicht ersichtlich. Zudem fehlt es an einer Auseinandersetzung mit den erheblichen Folgen für den Personen- und Warenverkehr, wenn alle Personen kontrolliert werden sollen und sich die Kontrollen nicht auf Stichproben beschränken, wie es derzeit der Fall ist. Denn dieses Modell garantiert gerade nicht, dass niemand ohne Papiere einreisen kann.

Die Erhebung über das geltende Recht

Der Plan erhebt sich über das geltende Recht und postuliert einen Vorrang des nationalen Rechts. Wer mit dem geltenden Recht nicht zufrieden ist, sollte sich in einem Verfassungsstaat um seine Änderung auf den vorgesehen Wegen bemühen und nicht in die Rolle eines fanatischen Gerechtigkeitskämpfers nach dem Vorbild von Kleists Michael Kohlhaas schlüpfen. Warum die CDU/CSU-Fraktion nicht die Geduld aufbringt, diesen Weg nach den Wahlen mit den Partnern in der EU zu beschreiten, ist schwer nachvollziehbar. Zumal der Wille in der EU für Änderungen deutlich aufgeschlossener sein dürfte als vor zwei Jahren.

Dass Dysfunktionalität die Wirksamkeit von Normen aufhebt, kennt das deutsche Verwaltungsrecht nur sehr begrenzt, etwa im Bauplanungsrecht in Gestalt der Rechtsfigur des funktionslosen Bebauungsplans. Das Bundesverfassungsgericht hat bei strukturellen Vollzugsdefiziten im Steuerrecht wegen der damit verbundenen Ungleichbehandlung eine Nichtigkeit angenommen. Beide Rechtsgedanken scheinen mir auf den vorliegenden Fall aber nicht übertragbar zu sein, weil sie letztlich die Lage nur noch verschlechtern. Es wird auch unterschlagen, dass im Falle der Grenzkontrollen nicht nur der Schengener Grenzkodex in Frage gestellt wird, sondern das EU-Primärrecht. Der Übertritt der Binnengrenzen ohne Personenkontrolle wird in Art. 77 Abs. 1 AEUV garantiert.

Deshalb wird unausgesprochen der Rekurs auf Art. 72 AEUV gewählt. Diese Norm erlaubt nationale Maßnahmen abweichend vom Unionsrecht, wenn die nationale Sicherheit gefährdet ist. Die Rechtsprechung des EuGH dazu ist sehr restriktiv und setzt zunächst voraus, dass sekundärrechtliche Schutzmaßnahmen ausgeschöpft werden. Bislang hat der EuGH in keinem Fall das Vorliegen der Voraussetzungen der Norm bejaht. Aktuell beruft sich wohl Finnland wegen der hybriden Bedrohung durch Russland und mit Billigung der EU-Kommission auf diese Norm, um seine Grenzschließung zu Russland zu rechtfertigen. Eine vergleichbare Gefährdungslage ist für Deutschland aber aktuell nicht ersichtlich und wurde auch nicht durch die letzten beiden Anschläge ausgelöst.

Um den Eindruck abzumildern, dass man das Unionsrecht ignoriert, stützt man die weitere Forderung nach Zurückweisungen an der Grenzen von Personen ohne gültige Papiere zugleich auf die alte, aber von den Unionsorganen nicht geteilte Argumentation, dass die Dublin-III-VO Zurückweisungen an der Grenze erlaubt. Der EuGH hat dies in der Rs. C-646/16 entschieden und auch der EGMR ist in H.T. vs. Germany and Greece (App. No. 13337/19) ohne Bezugnahme auf die Dublin-III-VO zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Das dürfte aber nicht für alle Drittstaatsangehörigen ohne gültige Papiere gelten. Und auch der Verweis auf Art. 16a GG hilft nicht weiter, weil dieser in seinem Absatz 5 ausdrücklich auf das Unions- und Völkerrecht verweist. Die Argumentation ist deshalb recht verworren und teilweise widersprüchlich, gerade weil sie sich in jeweils knapper Diktion auf mehrere Begründungsstränge zu stützen versucht.

Inhaftnahme

Grundlegende Fragen sind auch mit der Forderung verbunden, dass ausreispflichtige Personen dauerhaft in Haft zu nehmen sind, und dies unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für eine Rückführung bereits vorliegen und diese absehbar erfolgt, wie es die Rückführungsrichtlinie verlangt. Dieser Punkt betrifft mit der Freiheit der Person das älteste Grundrecht, das bis auf die Habeas Corpus Akte zurückführt und auch in der EMRK und im Grundgesetz einen hohen Stellenwert hat, verstärkt durch den Richtervorbehalt. Die Leichtigkeit, mit der dieses Grundrecht überspielt wird, ist für einen Verfassungsrechtler ein Alarmzeichen für einen verlorenen rechtsstaatlichen Kompass. Es ist deshalb daran zu erinnern, dass die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie zur Abschiebungshaft auf Grundsätze aus dem Europarat zurückgehen.

Dominoeffekt – aber welcher?

Der Fünf-Punkte-Plan hofft offensichtlich auf einen Dominoeffekt in den anderen Mitgliedstaaten. Diese sollen ebenfalls zu Grenzkontrollen und Zurückweisungen animieren. Die Folge wird aber sein, dass die Erstaufnahmestaaten in sehr kurzer Zeit wieder unter erheblichen Überlastungen leiden werden, sodass Vorgaben zum Verfahren und zur Aufnahme erst recht nicht eingehalten werden können. Eine solche Negativspirale trägt aber weder zur Funktionsfähigkeit des GEAS noch zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in der Europäischen Union bei. Und die Dysfunktionalität des Systems wird – wie gezeigt – eher vergrößert als gemindert. Welche Lösungsvorschläge einen Weg aus der Dysfunktionalität weisen sollen, bleibt offen. Neue Konflikte und tragische Zustände sind absehbar.

Richtlinienkompetenz oder Koalitionsvertrag?

In seiner ersten Ankündigung der fünf Punkte hatte Friedrich Merz auf den Gebrauch der Richtlinienkompetenz verwiesen. Dabei hatte er wohl übersehen, dass vor einer Regierungsbildung ein Koalitionsvertrag steht, in dem diese zentralen Fragen so oder anders zu verabreden sind. Nicht symbolische Stärke, sondern Verhandlungsgeschick ist deshalb zunächst gefordert. Angesichts der Tatsache, dass wohl nur zwei Partner in Frage kommen, die in den fraglichen Themen zudem einen dezidiert anderen Standpunkt einnehmen, ist zu hoffen, dass dieser Prozess noch zu einigen Klärungen und Nachjustierungen führt. Diese sollten weitere Änderungen auf Unionsebene, auch zur Behebung der in der Tat dysfunktionalen Zuständigkeitsregelungen entschlossen in Angriff nehmen und die Umsetzung der bereits beschlossenen Reformelemente, wie das Grenzverfahren, beschleunigen. Denn dass es weiteren dringenden Handlungsbedarf gibt, ist der nicht bestreitbare zutreffende Kern des Plans, der allerdings durch die Schwächen der einzelnen Forderungen und Vorschläge in seiner Wirkung verschleiert wird.

Symbolpolitik auf Kosten historischer Grundsätze

Auffällig ist auch, dass jeder Ansatz einer Folgenabschätzung fehlt. Das mag man mit dem Charakter des Beschlusses erklären und muss bei seiner – am besten zu vermeidenden – Überführung in einen Gesetzentwurf dringend nachgeholt werden. Es wird weder dargelegt, wie sich dauerhafte Grenzkontrollen auf den Wirtschaftsverkehr und die Personenverkehrsfreiheit auswirken. Es wird auch nicht dargelegt, wie gleichzeitig stationäre Grenzkontrollen und die etablierte Schleierfahndung durchgeführt werden sollen, die wegen der Möglichkeit von Grenzübertritten außerhalb der offiziellen Grenzübergänge weiterhin erforderlich sein wird. Und auch die Signalwirkung der drastischen Maßnahmen auf dringend benötigte Fachkräfte wird nicht thematisiert. Das alles muss deshalb im Rahmen von gründlichen Gesetzgebungsverfahren nachgeholt werden, die schon aus diesem Grunde ergebnisoffen durchzuführen sind.

Keine rechtliche, sondern eine politische Frage ist es hingegen, welche Bedeutung man dem Umstand gibt, dass die Mehrheit für den Fünf-Punkte-Plan nur durch die Zustimmung der AfD erreicht wurde, ein Novum auf Bundesebene. Das ist hier nicht zu vertiefen, weil es die Fragestellung und den Rahmen überschreitet. Nur so viel sei gesagt: Die AfD verfolgt die Ziele des Plans mit Sicherheit aus einer anderen und problematischeren Motivation als dies bei der CDU/CSU der Fall sein dürfte. Ihre Migrationspolitik ist in großen Teilen rassistisch motiviert und steht (nicht nur) deshalb außerhalb des Rahmens, den das Grundgesetz und das Unionsrecht für eine faire Migrationspolitik vorsehen. Es ist schließlich bedauerlich, dass durch einen rechtlich unverbindlichen Entschließungsantrag, den man der Symbolpolitik zuordnen kann und der mit vielen rechtlichen Risiken behaftet ist, eine mit so hohem historischen Gewicht versehene Grundhaltung aufgegeben wird. Vor allem gegenüber dem Ausland wird es nicht leicht sein, diesen Vorgang alleine durch den Hinweis auf wahltaktische Überlegungen in seiner Bedeutung zu relativieren.

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