Wenn ein Strafsenat des BGH ohne Not die Verfassung falsch auslegt
Der BGH hat am 16.1.2025 einen Beschluss gefasst, der sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Im Kriegsfall kann das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG ausgesetzt werden. Eine Verfassungsänderung ist hierfür nach Auffassung des BGH nicht nötig. Vielmehr könnte bereits der einfache Gesetzgeber eine Aussetzung beschließen, da Verkürzungen des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG für den Verteidigungsfall im Grundgesetz selbst angelegt seien und sich im einfachen Recht bereits spiegelten (BGH Beschl. v. 16.1.2025 – 4 ARs 11/24, Rn. 30 ff., 50). Für deutsche wehrpflichtige Männer würde das bedeuten, dass sie uneingeschränkt zum Kriegsdienst mit der Waffe herangezogen werden dürften – selbst wenn ihr Gewissen es ihnen verbietet, mit Waffengewalt andere Menschen im Krieg zu töten, sobald Deutschland mit völkerrechtswidriger Waffengewalt angegriffen und der Verteidigungsfall nach Art. 115a GG festgestellt würde.
Das ist falsch. Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG ist auf den Kriegsfall zugeschnitten. Sein unantastbarer Kernbereich verlangt gerade für den Verteidigungsfall uneingeschränkte Geltung. Der Kernbereich von Art. 4 Abs. 3 GG ist abwägungsfest. Er darf nicht gegen die Verfassungsgüter der effektiven Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr aufgerechnet werden, die das BVerfG aus den Art. 12a GG, 73 Abs. 1 Nr. 1 GG und Art. 87a Abs. 1 GG ableitet: Das gesetzesvorbehaltlos gewährte Recht auf Kriegsdienstverweigerung räumt dem Schutz des Einzelgewissens Vorrang selbst gegenüber der Pflicht zur Beteiligung an der bewaffneten Landesverteidigung und damit an der Sicherung der staatlichen Existenz ein (BVerfGE 28, 243 [260]). Wieso kommt der BGH zu einem anderen Ergebnis, und wo biegt er falsch ab?
Kontext, bitte!
Der BGH hatte über einen ukrainischen Staatsbürger zu entscheiden, der in Deutschland den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert und gehofft hatte, dies schütze ihn gegen seine Auslieferung in die Ukraine. Die Ukraine hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wegen ihres Verteidigungskrieges gegen den russischen Aggressor nämlich ausgesetzt. Der BGH erlaubt gleichwohl die Auslieferung von Kriegsdienstverweigerern, beschränkt sie aber allgemein auf den Fall, dass ein ersuchender Staat wie die Ukraine mit völkerrechtswidriger Waffengewalt angegriffen wurde.
Die Auslieferung eines Bürgers aus einem Drittstaat an seinen Heimatstaat wird stets auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft. Sie ist nur zulässig, wenn sie nicht gegen die unabdingbaren Grundsätze des Grundgesetzes verstößt, die von der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt werden (BVerfG Beschl. v. 21.5.2024 – 2 BvR 1694/23 Rn. 55BVerfG Beschl. v. 21.5.2024 – 2 BvR 1694/23, Rn. 55). Der BGH hatte die Auslieferung eines Kriegsdienstverweigerers wegen ihres Verstoßes gegen die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG zuvor ausgesetzt, wenn dieser eingewandt hatte, der ersuchende Staat würde seine Gewissensentscheidung entweder ignorieren oder ihn bestrafen. Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Art. 4 Abs. 3 GG ist ein spezieller Ausfluss aus der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG. Da die selbstständige Garantie der Gewissensfreiheit (auch) im Gedanken der Menschenwürde wurzelt, ist das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG zugeordnet. Es steht nach der Rechtsprechung des BVerfG mit ihr in einem engen sachlichen Zusammenhang (BVerfGE 28, 243 [260]).
Ist dieser Zusammenhang zwischen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenwürdegarantie im Detail aber tatsächlich so eng, dass er eine Auslieferung wegen eines Verstoßes gegen unabdingbare Grundsätze des Grundgesetzes verhindern kann? In jedem Grundrecht steckt ein Stück Menschenwürde. Alle Grundrechte nehmen deshalb an der Unabänderlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG teil – aber nur insoweit, als sie zur Aufrechterhaltung einer dem Grundgesetz entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind (BVerfG 109, 279). Ob und inwieweit diese Unverzichtbarkeit für Art. 4 Abs. 3 GG gilt, ist nicht geklärt. Eine Kriegsdienstverweigerung allein kann jedenfalls weder nach § 3 Abs. 2 Nr. 5 AsylG als Asylgrund geltend gemacht werden (EuGH C-472/13 – Shepherd; BVerwG Urt. v. 19.1.2023 – 1 C 22.21), noch begründet sie Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Um die Auslieferung eines Kriegsdienstverweigerers verfassungsfest zu machen, hätte es deshalb nahegelegen, den engen Konnex zwischen Art. 79 Abs. 3 GG, der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und der Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG für das Auslieferungsrecht zu kappen. Dieser Aufgabe stellt sich der BGH aber nicht.
Der BGH entleert stattdessen mit ein paar oberflächlichen, aus ihrem rechtlichen und tatsächlichen Kontext gerissenen Sätzen zu Art. 12a GG, dem KDVG und der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 4 Abs. 3 GG den verfassungsrechtlichen Gehalt des Grundrechts.
Kriegsdienstverweigerung ist für den Krieg da
Das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, fließt in allen nationalen Rechtsordnungen und im internationalen Recht aus dem Grundrecht auf Gewissensfreiheit. In den meisten demokratischen Staaten ist die Kriegsdienstverweigerung aber lediglich einfachgesetzlich normiert. In Deutschland ist sie ausdrücklich in der Verfassung verankert.
Im Grundgesetz steht sie seit 1949. Bereits Jahre bevor Westdeutschland seine Wehrhoheit überhaupt zurückverhandeln und eine Wehrpflichtigenarmee aufstellen durfte, entschloss sich der Parlamentarische Rat, seine Lehren aus zwei brutalen Weltkriegen zu ziehen. Vor allem die Nationalsozialisten hatten zwischen 1939 und 1945 um die 50.000 Männer, die den Kriegsdienst verweigerten, wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und etwa 20.000 von ihnen hingerichtet. Ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung passte deshalb gut zur Antikriegsstimmung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1948 zeichnete sich allerdings der Kalte Krieg am Horizont ab. Um die künftige Wehrhaftigkeit des westdeutschen Staates nicht zu gefährden, dachte der Parlamentarische Rat zunächst daran, ein Kriegsdienstverweigerungsrecht entweder auf religiöse Gründe zu beschränken oder es gleich ganz der einfachen Gesetzgebung zur Ausgestaltung zu überlassen. Letztlich entschied er sich dann aber doch dazu, jede Gewissensentscheidung, aus der sich für den einzelnen ein Tötungsverbot im Krieg ergibt, gegen das er nicht ohne ernste Gewissensnot handeln kann (BVerfGE 12, 45 LS 2 und 3), als ein Grundrecht anzuerkennen, das im Kriegsfall eben nicht einfach so außer Kraft gesetzt werden darf.1)
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG zielt offensichtlich auf den Kriegsfall. Nur hier kann es sein Potenzial überhaupt entfalten. Deshalb musste sich das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zu diesem Grundrecht (BVerfGE 12, 45 [56]) mit der Frage auseinandersetzen, ob Art. 4 Abs. 3 GG überhaupt für Wehrpflichtige im Frieden gilt. Diese Frage hat es bejaht: Es macht keinen Sinn, dem einzelnen eine Ausbildung aufzuzwingen und ihn auf einen Kampf mit einer Waffe vorzubereiten, die er im Ernstfall nicht benutzt. Der Staat hat ebenfalls kein Interesse daran, Wehrpflichtige auszubilden, die im Kriegsfall nicht mit Waffen kämpfen wollen.
Das Gericht unterteilt den Schutzbereich aus Art. 4 Abs. 3 GG deshalb in einen Kern- und einen Randbereich. In den Kernbereich fällt die Kriegsdienstverweigerung im Kriegsfall. Hier setzt das unmittelbar geltende Grundrecht der Grundpflicht der Staatsbürger, die Existenz ihres Staates im Notfall unter Aufopferung ihres Lebens mit Waffengewalt an der Front zu verteidigen zu müssen, eine unüberwindliche Schranke entgegen. Mit anderen Worten: Für den Kriegsfall darf der Gesetzgeber das vorbehaltlose Grundrecht auch über kollidierendes Verfassungsrecht nicht einschränken. Es ist stärker als die Verfassungsgüter der wirksamen Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr (BVerfGE 48, 127 [163 ff.]; 69, 1 [54 f.]).2)
Grundrecht unter Druck
Mit seinem Recht auf Kriegsdienstverweigerung geht das Grundgesetz sehr weit. Einerseits hofft es auf einen gewissenhaften Umgang der Wehrpflichtigen mit ihrem Gewissen, andererseits riskiert es die Wehrfähigkeit des Staates. Es geriet in konservativen Kreisen deshalb sofort in den Ruf, vermeintliche Drückeberger zu schützen und einen „Massenverschleiß des Gewissens“ (Theodor Heuß) zu organisieren. Nachdem in den ersten Jahren seit Bestehen der Wehrpflicht nur wenige Wehrpflichtige verweigerten, explodierten die Zahlen mit der 68er Generation und stiegen danach auf ein konstant hohes Niveau an. Mit der Notstandsverfassung von 1968 wurde deswegen in Art. 12a Abs. 2 GG der Ersatzdienst als Surrogat für den Wehrdienst mit der Waffe ins Grundgesetz aufgenommen. Gleichzeitig sorgt Art. 12a GG mit einer breiten Palette an Dienstpflichten für Bürger*innen auch für die zivile Verteidigung in Spannungs- und Verteidigungsfall vor.
Anders als der BGH meint, modifizieren die Dienstpflichten des Art. 12a GG den Schutz der Gewissensentscheidung aus Art. 4 Abs. 3 GG nicht. Bereits der Wortlaut von Art. 12a Abs. 2 S. 3 GG verbietet es, Kriegsdienstverweigerern Ersatzpflichten aufzuerlegen, die die Freiheit ihrer Gewissensentscheidung beeinträchtigen könnten. Diese Schutzregelung war notwendig geworden, weil konservative Kreise mit Plänen spielten, Kriegsdienstverweigerer ersatzweise und waffenlos in gefährliche Einsätze zu schicken, um ihnen ihre Gewissensentscheidung nach Art. 4 Abs. 3 GG madig zu machen. Sie sollten etwa zur Entschärfung von Blindgängern und als Minensucher bei den Streitkräften eingesetzt oder auf Himmelfahrtskommandos geschickt werden (BVerfGE 19, 135 [137]).
Der BGH übersieht ferner, dass aus Art. 12a GG das Konzept der Gesamtverteidigung spricht. Militärische und zivile Verteidigung greifen hier ineinander, um die deutsche Bevölkerung im Kriegsfall umfassend zu schützen. Dafür braucht der Staat die Mitwirkung aller seiner Bürger*innen. Der BGH unterschlägt, dass das Grundgesetz deshalb zwischen dem Kriegsdienst mit der Waffe – der verweigert werden darf – und dem Kriegsdienst ohne Waffe unterscheidet. Der waffenlose Kriegsdienst ist der Ersatzdienst aus Art. 12a Abs. 2 und 3 GG. Eine Totalverweigerung von Kriegs- und Ersatzdienst ist ausgeschlossen. Der waffenlose Ersatzdienst kann im Umkehrschluss aus Art. 12a Abs. 3 und 4 GG auch zum Dienst in den Streitkräften oder in der Bundeswehrverwaltung verpflichten. Das gibt die einfachgesetzliche Rechtslage derzeit wegen zunehmender Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen dem Dienst mit und ohne Waffe aber nicht her (§ 1 Abs. 2 KDVG). Der waffenlose Dienst in den Streitkräften ist ebenfalls keine Modifikation von Art. 4 Abs. 3 GG. Die Gewissensentscheidung nach Art. 4 Abs. 3 GG verhindert nämlich auch dort die Heranziehung zu jeder Tätigkeit, die „in einem nach dem Stande der jeweiligen Waffentechnik unmittelbaren Zusammenhang zum Einsatz von Kriegswaffen“ steht (BVerfGE 69, 1 [56]).
Das Nähere regelt ein Bundesgesetz
Kaum wurde die Kriegsdienstverweigerung mit dem Wehrpflichtgesetz von 1956 aktuell, zielte die Politik auch schon auf Einschränkungen dieses Grundrechts, um seinen Missbrauch aus politischen Gründen zu verhindern. Die Regelungsbefugnis aus Art. 4 Abs. 3 S. 2 GG ist nach der Rechtsprechung des BVerfG allerdings weder ein klassischer Gesetzesvorbehalt noch ein Ausgestaltungsvorbehalt. Sie ist ein Verfahrensvorbehalt. Der einfache Gesetzgeber darf lediglich Regeln für das Verfahren der behördlichen Gewissensprüfung und die Wirkungen des Antrags auf Verweigerung erlassen. Das Prüfungsverfahren in den §§ 5 ff. KDVG ist als Verwaltungsverfahren ausgestaltet. Es soll sicherstellen, dass nur diejenigen als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, bei denen mit hinreichender Sicherheit die Ernsthaftigkeit ihrer Gewissensentscheidung festgestellt werden kann. Die Beweislast tragen die Verweigerer (BVerfGE 69, 1 [21 ff.]). Der Strengegrad der Gewissenserforschung ist die einzige Stellschraube in Art. 4 Abs. 3 GG, an der Einschränkungen des Grundrechts ansetzen dürfen. Um die kollidierenden Verfassungsgüter der effektiven Landesverteidigung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu schützen, durften früher inquisitorische Befragungen der Verweigerer durchgeführt werden. Die Gewissensentscheidung wird heute viel oberflächlicher abgeprüft als noch zu Anfang der 1980er Jahre.
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen ablehnenden Bescheid haben grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Nach § 3 Abs. 2 S. 1 KDVG ist die Einberufung ungedienter Wehrpflichtiger deshalb erst zulässig, wenn ihr Antrag unanfechtbar abgelehnt wurde. Verweigern diensttuende Soldat*innen den Dienst mit der Waffe, ist es laut BVerfG dagegen zulässig, sie bis zu ihrer endgültigen Anerkennung weiterhin Dienst mit der Waffe tun zu lassen, um den ungestörten Dienstbetrieb der Bundeswehr und die Disziplin in der Truppe nicht zu stören (BVerfGE 28, 243 [261 f.]). Das gilt aber nur im Frieden.
Die beschränkte Wirkung des Verweigerungsantrags diensttuender Soldat*innen erklärt sich daraus, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Frieden nicht in den Kern-, sondern vielmehr in den Randbereich von Art. 4 Abs. 3 GG fällt. Ob der genannte Abwägungsmaßstab für diensttuende Soldat*innen im Kriegsfall modifiziert werden muss, lässt das BVerfG – wie der BGH zu Recht feststellt – in seiner Entscheidung offen, allerdings in einem ganz anderen Sinne als der Strafsenat meint. Denn der Kriegsfall ist der Kernbereich des Art. 4 Abs. 3 GG. Er lässt noch weniger Einschränkungen zu als der Friedensfall. Nun wendet der BGH zwar ein, dass ungediente Kriegsdienstverweigerer im Spannungs- und Verteidigungsfall bereits vor einer unanfechtbaren Ablehnungsentscheidung ihres Antrags zu den Streitkräften einberufen werden könnten (§§ 11 Abs. 1 Nr. 1 KDVG). Er zählt diese gesetzliche Einschränkung zu den einfachgesetzlichen Modifikationen des Art. 4 Abs. 3 GG, die bewiesen, dass das Grundrecht im Kriegsfall ausgesetzt werden könne. Anscheinend haben die Strafrichter*innen am BGH hier aber nur den Gesetzestext des § 11 Abs. 1 Nr. 1 KDVG gelesen. Dieser muss allerdings verfassungskonform ausgelegt werden, wie das BVerfG verlangt: Die Heranziehung des ungedienten Wehrpflichtigen beschränkt sich auf den waffenlosen Dienst in den Streitkräften (BVerfGE 69, 1 [54 f.]). Auch hier besteht also keine Einschränkungsmöglichkeit für Art. 4 Abs. 3 GG.
Von ungeschriebenen Treuepflichten des Bürgers gegenüber seinem Staat
Wenn geschriebenes Recht keine Möglichkeit bereithält, Art. 4 Abs. 3 GG einzuschränken, kann vielleicht ungeschriebenes Recht helfen, so der BGH. In Anlehnung an eine rätselhafte Formulierung des BVerfG (BVerfGE 12, 45 [57 f.]) deutet er an, dass die Bürger eines Staates im Kriegsfall ihrem Staat gegenüber „überragende Treuepflichten“ hätten, die ihnen eine Berufung auf Art. 4 Abs. 3 GG verböten. Was immer das BVerfG hier gemeint haben mag, der Satz stammt aus dem Jahr 1960. Das Gericht hat ihn nie wiederholt. Die juristische Dogmatik zum Verhältnis von Bürger*innen und Staat hat sich in den letzten 65 Jahren wesentlich verändert. Es ist richtig, dass die Bürger eines Staates dessen geborene Verteidiger sind. Die Annahme dahinter ist, dass das Volk in Waffen für seinen Staat zuverlässig kämpfen wird, da es mit ihm zugleich auch den Schutz seiner eigenen Freiheiten und Werte gegen äußere Angreifer verteidigt. Diese Verpflichtung auf Gegenseitigkeit, die unter dem Begriff der Grundpflicht behandelt wird, impliziert aber, dass es über das geschriebene Recht hinaus ungeschriebene Rechtsverpflichtungen der Bürger*innen gegenüber ihrem Staat geben kann. Das ist heute nicht mehr haltbar. Nur das Grundgesetz selbst kann den Bürger*innen Grundpflichten auferlegen. Über die durch Art. 4 Abs. 3 GG beschränkte Wehrpflicht aus Art. 12a Abs. 1 GG hinaus schuldet der Bürger dem Staat sein Leben im Krieg nicht. Um das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung für den Fall auszusetzen, für den es gemeint ist, nämlich für den Krieg, wäre eine Verfassungsänderung nötig. Dafür müsste der enge Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen allerdings argumentativ aufgelöst werden.