Grenzkontrollen bestimmen heißt Grenzkontrollen verantworten
Olaf Scholz versprach einmal: „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch.“ Bundeskanzler in spe Friedrich Merz wartet nicht auf die Bestellung. Noch aus der Opposition kündigt er an, am ersten Tag als Bundeskanzler zum Schutz der Deutschen vor den Gefahren ungeregelter Migration Grenzkontrollen per Richtlinienkompetenz anzuordnen. Je nach politischer Haltung erscheint diese Ankündigung manchen als erlösendes „Tun, was nottut“, anderen als bedenkliche Herrschaftsgeste und Imitation von Donald Trumps Barrage an Executive Orders gleich nach dessen Inauguration. In der bundesrepublikanischen Praxis ist dergleichen so oder so ein Solitär. So geläufig die Rede von der Kanzlerdemokratie ist, so selten greifen Bundeskanzler explizit zum Instrument ihrer sogenannten Richtlinienkompetenz – das Bestimmen der Richtlinien. Löst man sich von der Frage, wie Merz’ Vorhaben in der Sache zu bewerten ist, bleibt die Frage nach der Form des (angekündigten) Bestimmens auf der Grundlage des Art. 65 S. 1 GG – einmal als juristische Kompetenz, einmal als politische Geste.
Bestimmen als Kompetenz
Das Grundgesetz positioniert den Bundeskanzler im Zentrum des Parlamentarischen Regierungssystems.1) Er regiert dabei in der Praxis aber gerade nicht durch Weisungen an die Bundesminister. Eben das hat Friedrich Merz angekündigt, als er erklärte, noch am ersten Tag seiner Amtszeit den Bundesminister des Innern zum Grenzschutz anzuweisen. Eine solche auf Art. 65 S. 1 GG gestützte Weisung ist eine Machtausübung, die rechtlich vorgesehen und demokratisch legitimiert ist, zugleich aber eine Ausnahme darstellt: Der Normalfall des Regierens ist ein bürokratisch ausgeführter Koordinationsprozess, der mit den Interessen einer Vielzahl von Akteuren beladen ist. Weil Regieren in der Bundesrepublik regelmäßig Recht produzieren soll und dessen paradigmatische (wenn auch nicht häufigste) Form das Parlamentsgesetz ist, zielt das Regieren darauf, von der Ministerialbürokratie erstellte Gesetze durch das Parlament zu bekommen. Hierfür braucht es neben Koordination Autorität gegenüber den Abgeordneten und regelmäßig auch einen gewissen Zuspruch von außen: Auch wenn die politische Mitwirkung der Bürger auf regelmäßige Wahlen beschränkt ist, geschieht doch jegliches politische Handeln mit einem steten Blick auf Stimmungen und Zustimmungswerte.
Das Bestimmen der Richtlinien ist einerseits seit den 50er-Jahren Symbol der Zentralstellung des Bundeskanzlers. So akzeptierte der erste Bundespräsident Heuss den politischen Vorrang des Bundeskanzlers durch einen Hinweis auf diese Richtlinien, als er an Adenauer schrieb: „Sie wissen, Herr Bundeskanzler, daß ich weiß, daß Sie die ‚Richtlinien der Politik‘ bestimmen“.2) Andererseits erscheint die Ausübung der Kompetenz vor dem Hintergrund unserer kooperationsorientierten Praxis als deren Gegenbild:
„Und bist du nicht willig, so brauch’ ich…“ Art. 65.
Die Norm gibt dem Bundeskanzler das Recht, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Rechtliche Bindungswirkung hat dieses Bestimmen jedenfalls gegenüber den Bundesministern, die gemeinsam mit dem Bundeskanzler die Bundesregierung bilden (Art. 62 GG). Ein Bundesminister kann sich dieser Bindung nur durch die Bitte um seine Entlassung entziehen.
Dass wir dennoch so selten von diesem Instrument hören, hat mit der politischen Mechanik des Regierens zu tun: Die Kompetenz wird politisch reguliert. Dies ist ganz typisch für des Kanzlers Kompetenzen. Auch die sachliche Organisation der Bundesregierung ist rechtlich weitestgehend seine Sache: Er bestimmt seinen Stellvertreter (Art. 69 Abs. 1 GG), er sucht die Minister aus, die er dem Bundespräsidenten zur Ernennung vorschlägt (Art. 64 Abs. 1 GG), er entscheidet allein per Organisationserlass über den Zuschnitt der Bundesministerien.3) Wenn Olaf Scholz es wollte, könnte er noch vor der Wahl den Milei machen und die Mehrzahl der Ministerien abschaffen. Dass er dies nicht tut, hat nicht nur mit der inhaltlichen Differenz zum argentinischen Radikalreformer zu tun, sondern damit, dass die Ausübung juristischer Kompetenzen in der Regierung politische Folgen im Parlament hat. Die Kompetenzen des Bundeskanzlers sind schließlich allesamt politisch eingehegt: Wie regiert wird, soll durch Parteiprogramme und Koalitionsverträge aus Sicht der jeweiligen Partei(en) möglichst genau fixiert werden, bevor eine Regierung überhaupt im Amt ist. Und auch die Personalentscheidungen sowie der Zuschnitt der Ministerien wird vorverhandelt und anschließend braucht das Regieren, soll es zu Gesetzen führen, den ständigen Rückhalt der Regierungsfraktionen, die mitbestimmen wollen – die Hand des Kanzlers ist bei Personalvorschlägen, Organisationsentscheidungen und den Inhalten der Regierungspolitik regelmäßig eine geführte.
Nur in überraschenden Situationen und großen Augenblicken tritt der Kanzler aus dieser Einhegung hervor: Schröders Entscheidungen zu Kosovo und Afghanistan ging keine Deliberation mit Hinterbänklern und SPD-Ortsgruppen voraus, von Scholz’ „Zeitenwende“ wussten in der SPD-Fraktion nur die wenigsten. Und auch bei Merkels „Wir schaffen das“, welches Merz nun beenden möchte, galt: Oft genug schleift der Kanzler die Regierungsfraktionen mehr hinter sich her, als dass er sie überzeugt. Die weitreichenden Kompetenzen des Kanzlers finden ihren Grund in seiner besonderen Legitimation: Er allein wird vom Parlament gewählt und an ihm allein hängt der Bestand der Regierung, welche das Parlament nicht durch ein Misstrauensvotum stürzen, sondern nur durch einen neuen Kanzler – und damit auch eine neue Regierung – ersetzen kann. Zwar gehört es zur bundesdeutschen Parlamentslyrik, dessen demokratischen Sonderstatus zu betonen. Aber es wissen doch auch alle, dass der Bundeskanzler die wichtigere Gestalt ist als die langen Reihen von Bundestagsabgeordneten, deren Gesichter nicht einmal die Berlin-Korrespondenten großer Tageszeitungen erkennen.
Das Interessante ist nun: Je weniger Vertrauen ein Kanzler hinter sich weiß, desto nützlicher und zugleich fragwürdiger werden seine juristischen Kompetenzen.4) Je schwächer ein Bundeskanzler ist, desto eher hat er die Richtlinienkompetenz nötig, um Dinge umzusetzen und desto reizvoller erscheint sie als Möglichkeit, Führungsstärke unter Beweis zu stellen. Es ist ja kein Zufall, dass die immer vorhandene, kaum je benutzte Kompetenz gerade unter Betonung ihrer juristischen Form von Bundeskanzler Scholz aktiviert wurde, um Wirtschaftsminister Habeck bei der Verlängerung der Laufzeiten einiger Kernkraftwerke politisch zu decken. Die Richtlinienkompetenz funktioniert hier als Verantwortungsverschiebung: „Seht her, der Kanzler will es – es liegt nicht an mir“, konnte Habeck sagen. Der Bundeskanzler wird sich aber auch eine Signalwirkung erhofft haben: Sein hervorschnappendes Bestimmen sollte Führung markieren. Tatsächlich zeigte sie einen Mangel an Vertrauen in Habeck und ihn selbst. Je schwächer ein Kanzler ist, desto weniger selbstverständlich erscheint aber auch, dass ihm das Grundgesetz so starke Kompetenzen gibt. Man kann hier eine Unwucht im Verfassungsdesign sehen oder eine gewollte Stärkung des Kanzlers, der eben auch mit wenig Vertrauen regierungsfähig sein soll.
Bestimmen als Geste
Merz Ankündigung für den Tag nach der Ernennung ist natürlich eine, die dieser Ernennung Vorschub leisten soll. Aber das Gestenhafte ist ja keine Besonderheit des Spitzenkandidaten der Union, sondern gerade in Wahlkampfzeiten ganz selbstverständlich. Alle Parteien geben sich Mühe, ihre Ziele und „Werte“ rhetorisch zu beglaubigen. Interessant und besonders ist bei Merz der Wille, tatsächlich einmal selbst etwas zu machen.
Ankündigungen, mit denen das gewonnene Vertrauen in politisches Handeln übersetzt werden soll, stehen immer unter dem Vorbehalt, dass sie das Mittun Dritter erfordern – und dahinter wiederum kann man sich gut verstecken. So wenig aus der Spiegel-Cover-Ankündigung des Bundeskanzlers Scholz zu Abschiebungen im großen Stil wurde, so viele Gründe wird er anführen können, warum aus ihr nichts wurde. Vielleicht liegt es an den Bundesländern und die Absprachen mit den Staaten, in die zurückgeführt werden soll, sind so schwierig …. aber war dafür Baerbocks Außenamt oder Faesers Innenministerium zuständig? Klar war hinterher nur, dass es nicht geklappt hat. Eine Anordnung auf der Grundlage von Art. 65 S. 1 GG ist einem Bundeskanzler hingegen immer möglich. Wer sie ankündigt, macht eine Ansage, aus der er sich schlecht herauswinden kann.
Der Art. 65 S. 1 GG endet ja mit einem „…und trägt dafür die Verantwortung.“ Die Verantwortung ist der Schatten des Bestimmens. Die durch das Ausüben der Richtlinienkompetenz rechtlich fixierte und symbolisch erhöhte Verantwortungsübernahme hebt sich ab von der Merkel-Scholz-Manier, große Gesten zu meiden. Deren Regieren als Verwalten lebte von Voraussetzungen, die es selbst verzehrt hat: Wie sinnvoll oder nötig eine symbolische Verantwortungsübernahme ist, hängt auch mit Vertrauen der Bürger in die Politik zusammen. Dieses Vertrauen ist verschwunden. Nach der letzten Bürgerbefragung des Beamtenbundes sehen nur noch 25 % der Bürger den Staat in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Dazu kommt ein digital sichtbarer Narrensaum, der Politiker der etablierten Parteien nicht nur generell für unfähig hält, sondern ihnen ein bewusstes Arbeiten gegen die Interessen des eigenen Volkes unterstellt. So falsch diese Wahrnehmung ist, leistet ihr die universalistische Rhetorik des Juste-Milieu wenig Widerstand – es muss viel passieren, damit die deutsche Außenministerin einmal von deutschen Interessen spricht.
Führen von vorne ist in dieser Perspektive eine riskante Option, aber systemisch eine verständliche Folge von Jahren einer Kombination von bürokratischer Verwaltung mit schlechten Ergebnissen. Vor diesem Hintergrund steht Merz interessanterweise in einer Kontinuität mit Wirtschaftsminister Habeck und dessen Vorhaben und Maßnahmen im Infrastruktur und Energiebereich. Politik weiß sich ja oft nicht mehr zu helfen und ist auf Instrumente angewiesen, welche den Hütern der Normalität als Ausnahmen erscheinen: Das „überragende öffentliche Interesse“ in § 2 EEG und weiteren Infrastruktur-Gesetzen legt den Finger auf die Waage behördlicher Abwägungsentscheidungen, die LNG-Planung per Gesetz umgeht im Deutschland-Tempo die gesetzlichen Vorgaben für solche Vorhaben.5) Regierungen leiden unabhängig von ihrer Couleur bei der Aufgabenerledigung an übertriebenen rechtlichen Vorgaben, seien sie Berliner oder Brüsseler Provenienz.
Merz legt sich fest – nicht nur für seine Amtsausübung, sondern auch für das Kanzler werden: Er schlägt Pflöcke ein, welche auch die nötigen Koalitionsvereinbarungen vor Kanzlerwahl und Regierungsbildung erschweren. Noch etwas kommt hinzu: Es gibt einige Stimmen, die das von Merz gewollte Einreiseverbot für rechtswidrig halten. Nun wird einem Regierungschef immer der Gesamteindruck einer Regierung zugerechnet. Aber das Ausüben der Richtlinienkompetenz bringt die Entscheidung so nah an den Regierungschef heran, wie es nur geht: Grenzkontrollen bestimmen heißt Grenzkontrollen verantworten. Merz’ Ankündigung erscheint weniger als Herrschaftsgeste, denn als Verantwortungsübernahme: Ob für die richtige Sache, darüber kann sich jeder selbst eine Meinung bilden. Aber den Willen zur Verantwortung können selbst jene respektieren, die den antizipierten Inhalt der Richtlinien für „Tünkram“ halten.