Warum die Schutzfristregelungen des MuSchG reformbedürftig sind
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 21. August 2024 die Verfassungsbeschwerde mehrerer Frauen, die eine Fehlgeburt nach der 12., aber vor der 24. Schwangerschaftswoche erlitten haben, nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerde sei nicht fristgerecht eingelegt worden und genüge dem Grundsatz der Subsidiarität nicht. Damit ließ das BVerfG die zentrale materiell-rechtliche Frage offen, ob das MuSchG Frauen nach einer Fehlgeburt von Verfassungs wegen schützen muss. Der folgende Beitrag geht dieser Frage nach und kommt zu dem Ergebnis, dass es gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG verstößt, Mutterschutz nur nach starren Zeit- und Gewichtsgrenzen zu gewähren. Die aktuelle Schutzfristregelung aus § 3 Abs. 2 bis 4 MuSchG lässt sich zwar verfassungskonform auslegen. Gleichwohl sollte der Gesetzgeber den Mutterschutz nach Fehlgeburt ausdrücklich regeln, um Rechtsklarheit und -sicherheit zu schaffen und Betroffene effektiv zu schützen.
Zum Sachverhalt
Die Beschwerdeführerinnern wendeten sich gegen die Schutzfristregelungen aus § 3 Abs. 2 bis Abs. 4 MuSchG, die für Frauen nach der „Entbindung“ ein Beschäftigungsverbot statuieren. Die angegriffenen Regelungen seien mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG unvereinbar, weil sie Schwangere, die zwischen der 12. und 24. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt mit einem weniger als 500 Gramm schweren Kind erlitten, nicht in den Mutterschutz einbeziehen. Verfassungsrechtlich seien Frauen, die eine Fehlgeburt ab der 12. Schwangerschaftswoche erleiden, jedoch genauso wie Entbindende zu behandeln, die ihr Kind lebend oder tot nach der 24. Schwangerschaftswoche bzw, mit einem Gewicht von mehr als 500 Gramm gebären. Die beanstandete Differenzierung zwischen Lebend-, Tot- und Fehlgeburt ist dem MuSchG nicht zu entnehmen. Sie geht auf § 31 Personenstandsverordnung (PStV) zurück, den Gerichte regelmäßig (siehe z.B. BAG, Urt. v. 12.12.2013 – 8 AZR 838/12, Rn. 28) heranziehen, um den Begriff der „Entbindung“ in § 3 MuSchG auszulegen.
Ungleichbehandlung nach Tot- und Fehlgeburt?
Das wirft die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen die Schutzfristregelungen des MuSchG von Verfassungs wegen auch Schwangere nach einer Fehlgeburt erfassen müssen. Ein pauschaler Ausschluss von Frauen, die zwischen der 12. und 24. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt mit einem weniger als 500 Gramm schweren Kind erleiden, könnte gegen das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG verstoßen. Die Ungleichbehandlung wäre verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig ist. Ziel der Schutzfristregelung aus § 3 Abs. 2 bis Abs. 4 MuSchG ist, die besondere psychische und physische Belastung von Frauen nach der Entbindung auszugleichen (hierzu näher Dahm/BeckOK/Arbeitsrecht, 73. Ed., § 3 MuSchG Rn. 1 ff.).
Dabei gewährt Art. 6 Abs. 4 GG jeder, insbesondere der werdenden (BVerfG, Beschl. v. 25.01.1972 – 1 BvL 3/70, Rn, 15/juris) Mutter einen Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft. Eine Tot- oder Fehlgeburt lässt den Schutz aus Art. 6 Abs. 4 GG nicht entfallen (Brosius-Gersdorf/Dreier-GGK, 4. Aufl., Art. 6 Rn. 446 m.w.N. in Fn. 1234). Nach hier vertretener Auffassung sind Ungleichbehandlungen zwischen verschiedenen Gruppen von Müttern vorrangig an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Art. 6 Abs. 4 GG verstärkt jedoch den Schutz und kann so den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers verengen (ähnlich Jarass/Pieroth, GG, 18. Aufl., Art. 6 Rn. 71; nach a.A. folge ein entsprechendes Diskriminierungsverbot ohne Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG aus Art. 6 Abs. 4 GG Brosius-Gersdorf/Dreier-GGK, 4. Aufl., Art. 6 Rn. 455).
Verfassungsrechtliche Anforderungen
Ziel der Schutzfristen im MuSchG ist es, die physische und psychische Gesundheit von Frauen nach der Entbindung zu schützen. Dabei sind Zeitgrenzen grundsätzlich geeignete Differenzierungskriterien, um den Anwendungsbereich der Schutzfrist zu beschränken, weil sie von der typisierenden Annahme ausgehen, dass die Gesundheit nach einer längeren Schwangerschaft tendenziell stärker belastet sei. Da dem Gesetzgeber hier ein großer Beurteilungsspielraum zukommt, sind nach zeitlichen Grenzen bemessene Schutzfristen wohl geeignet und erforderlich.
Gleichwohl scheinen die starren Grenzen von 24 Schwangerschaftswochen beziehungsweise 500 Gramm Geburtsgewicht unverhältnismäßig im engeren Sinne, weil sie die Belastung von Frauen, die vor der 24. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erleiden, unabhängig vom Geburtsgewicht des Kindes nicht angemessen berücksichtigen. So wiesen auch die Beschwerdeführerinnen darauf hin, dass die potentielle Lebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Uterus keinen Rückschluss auf die reale Belastungssituation nach der Schwangerschaft zulasse (vgl. LTO-Bericht v. 01.08.2024). Aus psychologischer Perspektive gilt die Schwangerschaft der Frau ab der 12. Schwangerschaftswoche als „sicher“ (BT-Drucksache, 18/8963, S. 87 f.). Ab diesem Zeitraum hat sich die Bindung der Mutter zu ihrem ungeborenen Kind intensiviert (BT-Drucksache, 18/8963, S. 87 f.). Eine Fehlgeburt nach der 12. Schwangerschaftswoche ist daher oft mit tiefgreifenden seelischen Auswirkungen verbunden. Rund um die 20. Schwangerschaftswoche kann die Schwangerschaft nur noch durch einen natürlichen Geburtsvorgang oder durch Kaiserschnitt beendet werden. (vgl. BR-Drucksache, 289/24 (Beschluss), S. 1). Dann besteht auch ein gesteigerter körperlicher Regenerationsbedarf. Für betroffene Frauen hat es gravierende Folgen, wenn sie in dieser extremen Belastungssituation keinen Mutterschutz erhalten. Sie müssen spätestens am Tag nach der Fehlgeburt wieder am Arbeitsplatz erscheinen und haben keinen Anspruch auf Mutterschaftsgeld. Zwar bestünde ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die Möglichkeit, sich aufgrund der seelischen oder körperlichen Belastungen eine Arbeitsunfähigkeit ärztlich attestieren zu lassen, ist jedoch keine zumutbare Alternative. Zum einen besteht die Gefahr, dass Ärzte die Situation der Frauen nicht hinreichend ernst nehmen. Im konkreten Fall hatte eine Beschwerdeführerin berichtet, dass ihr zwei Ärzte die Krankschreibung verwehrten (vgl. ZDF-Bericht, v. 15.09.2024). Auch die Sorge vor Stigmatisierung kann Betroffene davon abhalten, ihren Entgeltfortzahlungsanspruch geltend zu machen, weil die Belastung nach einer Fehlgeburt pathologisiert wird.
Es ist daher mit Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG unvereinbar, Frauen die zwischen der 12. und 24. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt mit einem weniger als 500 Gramm schweren Kind erleiden, vom Anwendungsbereich der Schutzfrist aus § 3 Abs. 2 bis Abs. 4 MuSchG pauschal auszuschließen.
Verfassungskonforme Auslegung
Allerdings lässt sich der Begriff der „Entbindung“ losgelöst von den Begriffsbestimmungen in § 31 PStV verfassungskonform auslegen. Dafür hat sich auch das BVerfG in seinem Beschluss offen gezeigt. Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze erst dort, wo sie zum Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (BVerfG, Beschl. v. 18.12.2023 – 2 BvL 7/16, Rn. 24).
Zwar hat der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zur Reform des Mutterschutzgesetzes im Jahr 2017 die Fälle der Entbindung bei Lebend- oder Totgeburt i.S.d. § 31 Abs. 1 und 2 PStV von dem Fall der Fehlgeburt i.S.d. § 31 Abs. 3 PStV ausdrücklich abgegrenzt (siehe S. 87). Wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass das Kündigungsverbot bei Beendigung der Schwangerschaft durch Fehlgeburt bereits von § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 MuSchG (Kündigungsschutz bis zum Ende der Schutzfrist nach der Entbindung) erfasst wäre, hätte er keinen gesonderten Tatbestand für den Fall der Fehlgeburt geschaffen. Jedoch lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift nicht klar entnehmen, dass eine „Entbindung“ i.S.d. § 3 Abs. 2 bis Abs. 4 MuSchG erst ab einer für einen bestimmten Zeitraum andauernden Schwangerschaft oder ab einem bestimmten Geburtsgewicht anzunehmen ist. Weder das MuSchG noch die zugehörigen sozialrechtlichen Bestimmungen konkretisieren den Begriff (vgl. Beschluss, Rn. 17). Dass der Gesetzgeber die Zeit- und Gewichtsgrenzen aus § 31 PStV für die Auslegung des Begriffs der „Entbindung“ in § 3 Abs. 2 bis Abs. 4 MuSchG als zwingend maßgeblich erachtet, ist nicht erkennbar (Rn. 19). Schließlich bewertet auch der Gesetzgeber die Abgrenzung von Fehl- und Totgeburten in der PStV als nicht sachgerecht, sowohl aus medizinischer Sicht als auch nach dem Zweck des MuSchG (vgl. S. 87). Der Normzweck von § 31 PStV unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Schutzfristregelung aus § 3 Abs. 2 bis Abs. 4 MuSchG (Rn. 19). Im Lichte des Art. 6 Abs. 4 GG kann es daher geboten sein, eine „Entbindung“ im mutterschaftsrechtlichen Sinne auch im Falle einer Fehlgeburt anzunehmen (Rn. 19).
Reformdiskussion und Ausblick
Obwohl die Schutzfristen des MuSchG nach einer verfassungskonformen Auslegung auch für Frauen nach einer Fehlgeburt gelten, sollte der Gesetzgeber die Schutzfristregelung modifizieren, um Rechtssicherheit zu schaffen. Denn sonst müssten Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden, darauf vertrauen, dass ihre Krankenkassen und Arbeitgeber bzw. die Fachgerichte den Begriff der „Entbindung“ neu interpretieren. Weil Institutionen träge sind und Gewohnheiten folgen, ist dies unwahrscheinlich. Betroffene wären dann gezwungen, ihren Schutzanspruch gerichtlich durchzusetzen. Das verlangt ihnen (in einer ohnehin belastenden Situation) viel ab, während die Erfolgsaussichten unsicher sind. Faktisch dürften die verfassungswidrigen Zeit- und Gewichtsgrenzen aus § 31 PStV aufrechterhalten bleiben, weil Betroffene am Ende den Weg zum Arzt – oder gar zur Arbeit – vorziehen.
Mit einer Gesetzesänderung ließe sich auch der Widerspruch zu § 17 Abs. 1 S. 1 MuSchG beseitigen, der ein Kündigungsverbot bis zum Ablauf von vier Monaten nach einer Fehlgeburt nach der zwölften Schwangerschaftswoche vorsieht.
Der Koalitionsvertrag der Ampel kündigt zwar an, Fehl- oder Totgeburten ab der 20. Schwangerschaftswoche in den Anwendungsbereich der Schutzfrist einzubeziehen (S. 79). Dieser Vorschlag ist jedoch auf Kritik gestoßen, weil die starre Abgrenzung aufrechterhalten und das Schutzbedürfnis von Frauen, die zu einem früheren Zeitpunkt eine Fehlgeburt erleiden, weiterhin unberücksichtigt bliebe. Die Schutzfrist pauschal auf einen sehr frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft auszuweiten kann jedoch ebenfalls verfassungswidrig sein, weil das Beschäftigungsverbot in die zumindest über Art. 2 Abs. 1 GG geschützten freiheitlichen Interessen der Arbeitgeber eingreift.
Statt starrer Zeit- und Gewichtsgrenzen würde ein „gestaffelter Mutterschutz“ den verfassungsrechtlichen Anforderungen besser gerecht werden, wie ihn auch der Bundesrat befürwortet. Die Ausgestaltung der Schutzfristregelung muss berücksichtigen, dass das Ausmaß der mit einer Schwangerschaften verbundenen psychischen und physischen Belastungen während der Schwangerschaft anwächst. Es scheint für alle Betroffenen unangemessen, wenn ein Tag darüber entscheidet, ob der Frau nach einer Fehlgeburt entweder gar kein Mutterschutz oder die für Frühgeburten geltende 12-Wochen-Schutzfrist zusteht.
Der Gesetzgeber sollte die Entscheidung über die Anwendung der Schutzfristregelungen des MuSchG nach einer Fehlgeburt deshalb nicht auf die Fachgerichte abwälzen – auch wenn das BVerfG mit dem Beschluss angedeutet hat, dass eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist.