Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz sieht Ausnahmen vom Neutralitätsgebot
Zum Schutz der Verfassung dürfen Ministerpräsidentin und Landesregierung sich im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch gegen verfassungsfeindliche Parteien positionieren – so urteilte das Landesverfassungsgericht Rheinland-Pfalz am 2. April 2025.1) Diese Neubestimmung und Eingrenzung des bislang streng verstandenen Neutralitätsgebots für staatliche Stellen und Amtsträger ist folgerichtig und könnte in der Auseinandersetzung mit der AfD große Bedeutung gewinnen.
Sachverhalt und Entscheidung
Im Januar 2024 reagierte man vielerorts mit Kritik und öffentlichen Kundgebungen auf die bekannt gewordenen Pläne der AfD zur „Remigration“. Die damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer veröffentlichte auf ihrem Instagram-Account „ministerpräsidentin.rlp“ folgende Erklärung:
„Der Begriff ‚Remigration‘ verschleiert, was die AfD und andere rechtsextreme Verfassungsfeinde vorhaben: Sie planen die Vertreibung und Deportation von Millionen Menschen aus rassistischen Motiven. […] Die AfD ist ein Fall für die Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden, die diese Partei genau im Blick haben. In Deutschland haben wir schon einmal die schreckliche Erfahrung gemacht: Rechtsextremisten tun, was sie sagen und sie sagen, was sie tun. Die Bundesrepublik ist genau aus dieser Erfahrung heraus als eine wehrhafte Demokratie aufgebaut worden. Die Politik der AfD und ihrer rechtsextremen Netzwerke macht ganz vielen Menschen in Deutschland Angst. Das können wir nicht dulden und deshalb sende ich an alle Bürger und Bürgerinnen, die von der AfD zum Feind erklärt wurden, ein klares Signal der Solidarität und des Schutzes durch den demokratischen Rechtsstaat.“
Eine weitere Erklärung von Dreyer wurde als Pressemitteilung auf der Homepage der Landesregierung verbreitet. Das Gericht zitiert folgende Passage:
„Die aktuell öffentlich gewordenen Vertreibungspläne seien ein erschreckender Höhepunkt des rechtsextremen Gedankenguts, das auch führende Köpfe der AfD verbreiteten. ‚Rechtsextremisten bedrohen unsere Demokratie‘, so die Ministerpräsidentin weiter. Die AfD sei in drei Bundesländern bereits als gesichert rechtsextrem eingestuft, ihre Jugendorganisation bundesweit als Verdachtsfall geführt. Einen ihrer zentralen Köpfe dürfe man gerichtsfest als Faschisten bezeichnen. Auch Mitglieder der AfD Rheinland-Pfalz seien in rechtsradikalen Zusammenhängen unterwegs. ‚Das alles zeigt: Auch in Rheinland-Pfalz geht es nicht um Geschmacksfragen oder politische Moral. Hier geht es um eine Überlebensfrage der Demokratie. Wenn Rechtsextremisten an die Macht gelangen, dann ist die Demokratie am Ende.‘ Viele Menschen wünschten sich nun ein Verbot der Partei. Ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, müsse akribisch geprüft und die Möglichkeiten des Rechtsstaates ausgeschöpft werden. Klar sei aber auch: Ein solcher Weg sei langwierig, risikoreich und auch politisch umstritten. Und die Hürden seien zu Recht hoch.“
Kennern der Materie ist sofort klar: Veröffentlichungen auf einer Internetseite oder einem Social-Media-Account der Regierung oder eines Regierungsmitglieds unterliegen dem Gebot politischer Neutralität.2) Dieses leitet sich aus dem Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG und dem Demokratieprinzip ab. Der politische Wettbewerb in einer Demokratie darf nicht dadurch verzerrt werden, dass Staatsorgane ihre Ressourcen einsetzen, um für oder gegen eine politische Partei Position zu ergreifen.3) Entsprechende Maßstäbe finden sich auch im Landesverfassungsrecht, namentlich die Gleichheit nach Art. 17 Abs. 2 LVerf RLP, das Demokratieprinzip nach Art. 74 Abs. 1 LVerf RLP oder die Parteienrechte gemäß Art. 21 GG kraft ungeschriebenen Verfassungsrechts.4) Angesichts dieser Ausgangslage hatten viele Beobachter erwartet, dass die AfD im vorliegenden Verfahren obsiegt, nachdem der Landesverband gegen Ministerpräsidentin und Landesregierung ein Organstreitverfahren angestrengt hatte.
Es kam aber anders. Der Verfassungsgerichtshof bejahte zwar, dass die genannten Erklärungen das Neutralitätsgebot nicht wahrten und in das Recht auf Chancengleichheit der Parteien eingriffen. Er sah diesen Eingriff aber zugleich als zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerechtfertigt an.5)
Folgerichtig: Verfassungsschutz durch Öffentlichkeitsarbeit statt Neutralitätspflicht
Dieser Gedankengang verdient eine nähere Würdigung. Vorweggeschickt sei, dass die Neutralitäts-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits erheblicher Kritik ausgesetzt ist. Diese bezieht sich aber in erster Linie auf solche Äußerungen, bei denen Amtsinhaber nicht auf staatliche Ressourcen (Finanzen, Personal, Infrastruktur) zurückgreifen, sondern ihre Amtsautorität nutzen, und bei denen gleichwohl das Neutralitätsgebot gelten soll.6) Diese Rechtsprechung verkennt die politische Natur politischer Staatsämter und schafft kuriose Abgrenzungsfragen zwischen Tätigkeiten mit oder ohne Inanspruchnahme der Amtsautorität.7) Der vorliegende Fall ist insoweit einfacher gelagert, als mit den offiziellen Informationskanälen der Ministerpräsidentin bzw. der Regierung – Social-Media-Account und Homepage – unzweifelhaft Regierungsressourcen genutzt wurden.8)
Stattdessen argumentiert der Verfassungsgerichtshof, dass sich ein Eingriff in die Chancengleichheit der politischen Parteien rechtfertigen lasse – und zwar zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Aus der Grundentscheidung der Landesverfassung für eine wehrhafte Demokratie folge der Auftrag an die Verfassungsorgane, für die Verfassung einzutreten, und hieraus wiederum ihre Befugnis, sich mit verfassungsfeindlichen Parteien zu befassen, das Verhalten der Parteien als extremistisch und verfassungsfeindlich zu beurteilen und im Anschluss an diese Wertungen auch Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.9) Als ein zusätzliches Argument führt der Verfassungsgerichtshof vorliegend an, dass eine Landesregierung nach § 43 Abs. 2 BVerfGG ja gar keine Befugnis besitze, ein Verbotsverfahren gegen eine für verfassungsfeindlich gehaltene Partei einzuleiten, und damit gezwungen sei, die Auseinandersetzung auf politischem Feld zu führen und hierfür die Öffentlichkeit zu unterrichten.10)
Dieses Vorgehen knüpft durchaus an vergangene Rechtsprechung an. Der Verfassungsgerichthof selbst hatte bereits 2007 in einem Fall, in dem es um eine staatliche Broschüre zu Maßnahmen gegen Rechtsextremisten für kommunale Entscheidungsträger ging, den Schutzauftrag der Verfassungsorgane für die Verfassung in Gestalt von Öffentlichkeitsarbeit betont.11) Aber auch das Bundesverfassungsgericht geht in seiner Rechtsprechung nicht von einem absoluten Verständnis der Neutralität aus, sondern hält das Eintreten der Verfassungsorgane für Verfassungsschutz im Rahmen einer öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich für verfassungskonform.12)
Die Herangehensweise des Verfassungsgerichtshofs überzeugt auch in der Sache und lässt sich mit weiteren Argumenten stützen. Zunächst: Wenn verfassungswidrige Parteien auf Antrag von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht verboten werden können (§ 43 Abs. 1 BVerfGG), dann bedarf es hierfür einer hinreichenden Vorbereitung, die auch im Wege der begleitenden Öffentlichkeitsarbeit kommuniziert werden darf und soll. Ferner ist der Weg zum Verbotsantrag und zum gerichtlichen Verbot aber auch voraussetzungsreich: Es sind nur die drei genannten Verfassungsorgane antragsbefugt (und die Landesregierungen nur dann, wenn sich eine Partei auf das Gebiet eines Bundeslandes beschränkt). Selbst wenn die Voraussetzungen eines Verbots objektiv vorlägen, würde aber nicht automatisch ein Verbotsantrag gestellt werden, da man in den jeweiligen Verfassungsorganen erst eine entsprechende Mehrheit für einen solchen Verbotsantrag gewinnen müsste. Wenn Verfassungsorgane in dieser Situation auf die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei hinweisen, so stellt dies eine eigenständige Form des Verfassungsschutzes durch Informationstätigkeit dar. Dieser Verfassungsschutz gewinnt noch an Gewicht, weil das Bundesverfassungsgericht seit der zweiten NPD-Verbotsentscheidung ja davon ausgeht, dass es auch verfassungsfeindliche, aber mangels Potentialität nicht verbotene Parteien gibt.13) Denn gerade gegen verfassungsfeindliche Parteien muss man zum Schutz der Verfassung ja auch dann vorgehen können, wenn das scharfe Schwert des Parteienverbotes nicht eingesetzt werden kann. Dass auch Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiges Element des Verfassungsschutzes darstellt, zeigen nicht zuletzt die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden zur regelmäßigen oder anlassbezogenen Veröffentlichung ihrer Erkenntnisse über verfassungswidrige Bestrebungen (etwa nach § 16 BVerfSchG oder § 17 Abs. 2 und 3 VerfSchG RLP).
Aber: Mögliche Entwertung des Neutralitätsprinzips?
Dennoch lässt sich am Urteil des Verfassungsgerichtshofs auch Kritik üben, da es das Neutralitätsprinzip – hier nur bezogen auf den politisch neutralen Einsatz staatlicher Ressourcen – der Gefahr einer allzu leichten Entwertung aussetzen könnte. Zum einen erscheint die dogmatische Konstruktion eines „Eingriffs“ in das Recht auf Chancengleichheit der Parteien und einer Abwägung mit dem Verfassungsschutz (die Gerichte sprechen von „die Waage halten“) zweifelhaft14) – wobei der Verfassungsgerichtshof hier der Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts folgt.15) Das Gebot politischer Neutralität beim Einsatz staatlicher Ressourcen stützt sich auf das Gleichheitsrecht der Parteien und auf das Demokratieprinzip. Anders als ein Freiheitsrecht, das einen weitreichenden Handlungsraum gewährt und vom Gesetzgeber zum Ausgleich mit gegenläufigen Rechtsgütern in unterschiedlicher Art und Weise beschränkt werden kann, ist staatliche Neutralität ihrem Anspruch nach unbedingt. Es wäre daher angemessen, spezifische Ausnahmen von der staatlichen Neutralität zugunsten des Verfassungsschutzes zu definieren, die Neutralität aber nicht einem allgemeinen Abwägungsvorbehalt zu unterstellen.
Zum anderen sind die in der Rechtsprechung ausgebildeten Grenzen staatlicher Neutralität zu weit definiert. Der Verfassungsgerichtshof sieht die Öffentlichkeitsarbeit im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht durch ein Willkürverbot und ein Sachlichkeitsgebot begrenzt. Einschätzungen politischer Parteien als verfassungsfeindlich würden erst dann unzulässig, „wenn sie bei verständiger Würdigung der die Verfassung beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen und den Anspruch der betroffenen Partei auf gleiche Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigen“. Und das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Sachlichkeitsgebot verbiete „verfälschende, diskriminierende oder diffamierende Äußerungen“.16) Diese Obersätze sind allzu weit formuliert. Bedenkt man die Gefahr, dass eine Regierung versucht sein kann, politische Konkurrenten mit den ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Ressourcen öffentlich zu diskreditieren, so müssen bereits die Maßstäbe für eine Ausnahme vom Neutralitätsgebot enger gefasst werden (auch wenn die konkrete Subsumtion des Verfassungsgerichtshofs vorliegend nicht zu beanstanden ist).
Wichtig wäre zunächst, dass der regierungsamtliche Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit nur auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage erfolgen darf. Hier hat der Verfassungsgerichtshof in seiner Subsumtion richtigerweise auf die zahlreichen, bereits im Januar 2024 veröffentlichten Erkenntnisse von Verfassungsschutzbehörden zu rechtsextremistischen und verfassungsfeindlichen Positionen und Aktivitäten der AfD verwiesen.17) Des Weiteren muss auch eine hierauf gestützte Einordnung von Vorgängen oder Parteien als verfassungsfeindlich nachvollziehbar (und nicht nur nicht unverständlich oder willkürfrei) sein. Auch dies hat der Verfassungsgerichtshof in der Sache geprüft und zu Recht die von Malu Dreyer vorgenommene Deutung des Begriffs „Remigration“ als verfassungswidriges Vorhaben als nachvollziehbar angenommen: Der Plan einer millionenfachen Remigration ungeachtet von Aufenthaltsstatus oder Staatsbürgerschaft widerspricht eben dem Rechtsstaatsprinzip und offenbart eine rassistische, menschenwürdewidrige Motivation.18) Dem Sachlichkeitsgebot, das nach seinem Obersatz schlichte Selbstverständlichkeiten staatlicher Tätigkeit formuliert (keine verfälschenden, diskriminierenden oder diffamierende Äußerungen), entnimmt der Verfassungsgerichtshof das Verbot einer allgemeinen parteipolitischen Stellungnahme und einer unsachlichen Sprache (was mit Blick auf eine weitere streitgegenständliche Veröffentlichung von Bedeutung ist).19) Auch dies ist wichtig und richtig. Insgesamt müsste meines Erachtens aber noch eine weitere Bedingung für die Ausnahme vom Neutralitätsgebot erfüllt sein, und zwar das ernsthafte Eintreten für den Verfassungsschutz. Nur diese Ernsthaftigkeit rechtfertigt ein Abgehen vom Gebot des politischen neutralen Einsatzes staatlicher Ressourcen und verringert die Missbrauchsgefahr. Ernsthaftigkeit mit Blick auf verfassungsfeindliche Parteien bedeutet aber insbesondere, dass man das in der Verfassung vorgesehene Verfahren für den Umgang mit verfassungsfeindlichen Parteien – das Verbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 bis 5 GG – anvisiert, vorbereitet und bei hinreichenden Erfolgsaussichten auch auf den Weg bringt. Auch eine Landesregierung kann hier grundsätzlich über den Bundesrat tätig werden.
Ausblick: Insbesondere Auswirkungen auf ein AfD-Verbotsverfahren?
Wie wird sich das Urteil des Verfassungsgerichtshof nun – insbesondere auf die Auseinandersetzung mit der AfD – auswirken? In formaler Hinsicht beschränkt sich die Entscheidung auf den Verfassungsraum des Bundeslandes Rheinland-Pfalz. Es ist aber durchaus möglich, dass der hier vorgezeichnete Weg, die Neutralitätspflicht zu begrenzen und damit eine intensivere Öffentlichkeitsarbeit im Dienste des Verfassungsschutzes zu ermöglichen, auch von anderen Landesverfassungsgerichten und insbesondere dem Bundesverfassungsgericht aufgegriffen wird.20) Denn wenn sich die Belege für die Verfassungsfeindlichkeit der AfD häufen, ein förmliches Parteiverbotsverfahren aber nicht eingeleitet wird, so ist es naheliegend und folgerichtig, der Partei jedenfalls mit den Mitteln der öffentlichen Auseinandersetzung entgegenzutreten. Dies sollte aber gerade nicht dazu führen, dass die Bekämpfung einer verfassungsfeindlichen Partei von einem Verbotsverfahren wegführt. Ernsthaftigkeit des Verfassungsschutzes verlangt, wie soeben erläutert, gerade auch, dass man das Parteiverbot – als zentrales, vom Grundgesetz vorgesehenes Element der wehrhaften Demokratie – vorbereitet und betreibt.