Pushbacks und Verschwindenlassen von Menschen an den Grenzen Europas – Go Health Pro

„[Die Polyriten, das] ist ein recht ansehnliches Volk mit überaus vernünftiger Staatsverfassung“ erzählt der vielgereiste und weise Raphael seinen Gesprächspartnern in Thomas Morus’ Roman „Utopia“.1) Die von Raphael gelobte „Staatskunst“ der Polyriten hänge damit zusammen, dass „sie weit vom Meere entfernt, fast ganz von Bergen eingeschlossen leben“, Kontakte mit anderen Völkern haben sie kaum.2) Noch vortrefflicher sei aber das Staatswesen und das Zusammenleben der Utopier, über die Morus’ Erzähler eine lange Rede hält. Die Utopier wohnen auf einer Insel. Die Insel ist „durch Natur oder Kunst so stark befestigt, daß selbst gewaltige Truppenmassen von wenigen Verteidigern abgewiesen werden können.“3) Mauer und Meer machen „Ausländer[n]“ den Zugang zu den vierundfünfzig Städten der Insel „Utopia“ unmöglich.4) Aber Utopia sei nicht immer schon eine Insel gewesen, vielmehr habe der Staatsgründer „Utopus“ das Land zur Insel gemacht, indem er das Territorium, das ursprünglich Utopia mit dem Festland verband, ausstechen ließ und das Meer ringsherum führte.5)Wie das „ansehnliche Volk“ der Polyriten leben auch die klug regierten Utopier von der Außenwelt abgeschottet. Für Thomas Morus scheinen Grenzen (natürliche wie künstliche) und Abkapselung einer Gemeinschaft eine notwendige Bedingung für ein konfliktfreies Zusammenleben zu sein.6) Hierbei handelt es sich um eine langlebige Vorstellung. Darauf machen Volker Heins und Frank Wolff in ihrem Buch „Hinter Mauern“ aufmerksam: „Gräben, Dämme, Mauern: Von Thomas Morus bis heute lebt die Obsession fort, eine wohlgeordnete, harmonische Gesellschaft durch weitgehende Abschottung von der Außenwelt zu erreichen.“7)

Das Fortleben dieser „Obsession“ zeigt sich den Autoren zufolge in der europäischen Flüchtlingspolitik seit 2015.8) Abwehrmethoden wie Pushbacks, d.h. kollektive Zurückweisungen ohne Überprüfung der individuellen Berechtigung auf Asyl und Errichtung von Mauern an der EU-Außengrenze sind Teil dieser Politik, die in den letzten Jahren wegen ihrer Rigorosität und ihres menschenrechtsverletzenden Charakters in der breiten medialen Öffentlichkeit häufig angeprangert wurde. Gleichwohl scheint die „Obsession“ der Abschottung nicht nachlassen zu wollen, auch nicht angesichts von Bildern von in Seenot geratenen Migrant:innen im Mittelmeer oder von frierenden Schutzsuchenden an der polnisch-belarussischen Grenze.

Ende des letzten Jahres (11.12.2024) veröffentlichte die Europäische Kommission nun eine Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat über die Abwehr hybrider Bedrohungen infolge des Einsatzes von „Migration als Waffe“ und die Stärkung der Sicherheit an den EU-Außengrenzen. Migration wird missbraucht und als Taktik hybrider Kriegsführung eingesetzt (hier, S. 1), lautet das Hauptargument der Kommission zur Rechtfertigung einer strengen Grenzpolitik, die das individuelle Asylrecht stark einschränken bzw. beseitigen kann, indem Pushback-Praktiken unter Umständen als legitim betrachtet werden können.

Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Mitteilung der Kommission in zweierlei Hinsicht Anlass zur Sorge gibt, dass das Schutzniveau geflüchteter Personen nach internationalem Recht erheblich abgesenkt werden könnte und eine ohnehin besonders vulnerable Gruppe noch weiter gefährdet wird. Zum einen lassen sich Bedenken mit Blick auf das Asylrecht formulieren, zum anderen – und hier steht die eigentliche Debatte noch aus – im Hinblick auf das Menschlichkeitsverbrechen des Verschwindenlassens.

„Pushbacks“ als Verletzung des Asylrechts

Laut Kommission können Mitgliedstaaten „die zur Wahrung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung erforderlichen Maßnahmen ergreifen, wenn eine große Zahl von Migranten versucht, ihre Außengrenzen unerlaubt, massenweise und gewaltsam zu überschreiten“ (hier, S. 3). Das sei eine Ausnahmesituation, in der Ausnahmemaßnahmen getroffen werden dürften, d.h. eine Abweichung „von bestimmten Verfahrensvorschriften des EU-Asylrechts“ (hier, S. 1, 4). Die Kommission beruft sich auf die Ausnahmeregelung des Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (hier, S. 6). Grundsätzlich darf nach Abs. 1 desselben Artikels kein vertragschließender Staat einen Geflüchteten in Gebiete zurückweisen, „in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde“. Gefährden die Flüchtlinge allerdings die Sicherheit des Aufnahmelandes oder der Allgemeinheit, können sie sich nach Abs. 2 des Art. 33 auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung (principle of non-refoulement) des Abs. 1 nicht berufen.

Große Menschenmengen, die die Grenzen illegal und gewaltsam überschreiten wollen, stellen nach der EU-Kommission eine solche Gefahr für die innere Sicherheit dar. Den Mitgliedstaaten sei es erlaubt,  unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignete Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen (hier, S. 1, 3 f., 6 f.). In diesem Zusammenhang weist der Völkerrechtler Daniel Thym darauf hin, dass durch die Hervorhebung der Ausnahmeregelung des Art. 33 Ab. 2 GVK für den Fall von „Massenzuströmen“ kollektive Zurückweisungen ohne individuelle Prüfung in Zukunft als menschenrechtskonform erachtet werden könnten, was „eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Flüchtlingsvölkerrechts“ bedeuten würde (s. hier). In Art. 3 der Declaration on Territorial Asylum vom 14.12.1967  nahm die UN-Generalversammlung eine Ausnahme vom Grundsatz der Nichtzurückweisung bei einem Massenzustrom an (“Exception may be made to the foregoing principle only for overriding reasons of national security or in order to safeguard the population, as in the case of a mass influx of persons). Diese Einschränkung des Asylrechts wurde im Laufe der neunziger Jahre durch die EGMR-Judikatur beseitigt (s. hier). Thym sieht in der Kommissionsmitteilung zu Recht eine „Trendumkehr“, in der das Schutzniveau abnimmt (s. hier).

„Pushbacks“ als Verschwindenlassen

Der Mitteilung der EU-Kommission ist aber nicht nur mit Blick auf das Recht auf Asyl und den Grundsatz der Nichtzurückweisung der Genfer Flüchtlingskonvention mit Skepsis zu begegnen. Problematisch ist die Mitteilung auch vor dem Hintergrund der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen von Menschen im Kontext von Migration, die Ende 2023 verabschiedet wurde.9) Nimmt man dieses Dokument ernst, ergeben sich schwerwiegende Bedenken, dass Pushbacks auch gegen internationales Strafrecht verstoßen könnten. Mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 reagiert der UN-Ausschuss auf den Umstand, dass entlang der verschiedenen Migrationsrouten vermehrt Personen als vermisst gemeldet werden (hier, S. 2). Der Ausschuss weist unter anderem auf die Angaben des IOM-Projekts „Missing Migrants“ hin, wonach seit 2014 mehr als 50.000 Migrant:innen als vermisst gelten (hier, S. 2).10)Der Begriff „Migrant“ wird in der Allgemeinen Bemerkung weit verstanden. Darunter fallen Personen, „die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort verlassen, ob innerhalb eines Landes oder über internationale Grenzen hinweg, ob vorübergehend oder dauerhaft und aus einer Vielzahl von Gründen, wie etwa Familienzusammenführung oder Flucht vor internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikten, Verfolgung, Diskriminierung, Naturkatastrophen, Umweltzerstörung, den Auswirkungen des Klimawandels, einer schwierigen wirtschaftlichen Situation oder hoher Kriminalität“ (hier, S. 1). Auf die in der Migrationsforschung übliche Differenzierung zwischen Fluchtbewegungen und Wanderungsbewegungen kommt es hier nicht an.11) Auch für die Frage des Verschwindenlassens kommt es darauf nicht an. So ergeben sich strafrechtliche Folgefragen, die hier dargestellt werden.

Nach dem UN-Ausschuss ist notwendig zu beachten, dass sich die Kontexte und die Modalitäten des Verschwindenlassens im Laufe der Zeit ändern (hier, S. 3).12) In Anbetracht der aktuellen humanitären Krise an den EU-Außengrenzen sei das Verschwindenlassen mit Blick auf den Migrationskontext zu problematisieren. Der UN-Ausschuss betont die besondere Vulnerabilität von Migrant:innen, die unter anderem aufgrund von Sprachbarrieren und nicht dokumentiertem Status bei Überquerung von Staatsgrenzen leicht Opfer von Verschwindenlassen werden können (hier, S. 1). Das Verschwindenlassen ist hier im Sinne des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen zu verstehen, das im Jahr 2010 in Kraft trat und bisher von 77 Staaten weltweit ratifiziert wurde. Darunter befinden sich auch viele EU-Mitgliedstaaten, auch Mitgliedstaaten, die (wie etwa Polen, Griechenland, Italien, Spanien) unmittelbar damit befasst sind, „für eine wirksame Kontrolle der Außengrenzen der Union zu sorgen“ (hier, S. 1).

Verschwindenlassen bedeutet nach Art. 2 des Übereinkommens „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird“. Zwei zeitlich aufeinanderfolgende Teilakte werden verlangt, vereinfacht gesagt: Zunächst muss eine Person ihrer Freiheit beraubt werden, danach muss es dazu kommen, dass der Verbleib der Person nicht bekannt gegeben wird (hier, S. 97). Staatliche Akteure müssen hierbei involviert sein. Das Verschwindenlassen kann außerdem in zwei Erscheinungsformen auftreten, in einer „systematische[n]“ Begehungsform, die einen völkerstrafrechtlichen Tatbestand (Menschlichkeitsverbrechen) begründet und in einer „sporadische[n]“ Form, die außerhalb des Völkerstrafrechts zu verorten ist (hier, S. 96).

Unter das Verschwindenlassen im Sinne des Internationalen Übereinkommens, worauf sich die Allgemeine Bemerkung Nr. 1  des UN-Ausschusses zum Schutz von Menschen im Kontext von Migration vor dem Verschwindenlassen bezieht, fallen beide Erscheinungsformen (dazu hier, S. 96). Zur Umsetzung des Übereinkommens verpflichten sich die Vertragsstaaten, auch die sporadische Begehungsform zu inkriminieren, nach verbreiteter Ansicht sogar dazu, sie in einem selbstständigen Straftatbestand zu regeln (s. hier, S. 96 ff.). Zur Umsetzung des Übereinkommens wurde z.B. in Deutschland durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Völkerstrafrechts vom 30.7.2024 § 234b StGB eingeführt, der das „einfache Verschwindenlassen“ regelt (s. hier). Für die Inkriminierung ist nicht erforderlich, dass die einzelnen Modalitäten (Freiheitsberaubung und Auskunftsverweigerung) nach dem Vorbild des Art. 7 Abs. 1 lit. i), Abs. 2 lit. i) IStGH-Statut im Zusammenhang mit einer in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung (Kontextelement) begangen werden (dazu hier, S. 96 ff.).13)

Der UN-Ausschuss weist daraufhin, dass Kollektivausweisungen wie Pushbacks unter den Begriff des Verschwindenlassens des Internationalen Übereinkommens subsumiert werden können (hier, S. 14 f.), was für die Vertragsstaaten die Inkriminierungspflicht von solchen Praktiken bedeuten würde (auch wenn sie nur sporadisch erfolgen). Auf die Dauer der Freiheitsentziehung kommt es nicht an (hier, S. 7). Das Anhalten von Booten und das gewaltsame Zurückschicken von Schutzsuchenden aufs Meer kann, auch wenn der ganze Vorgang kurzfristig geschieht, nach den Maßstäben des Ausschusses als gewaltsames Verschwindenlassen eingestuft werden, wenn das Schicksal oder der Verbleib der Personen verborgen gehalten wird (vgl. hier, S. 14 f.). Durch solche Praktiken wird den betroffenen Personen der Schutz der Rechtsordnung entzogen (keine individuelle Überprüfung ihres Falls, ihres Migrationsstatus und ihres menschenrechtlichen Schutzbedürfnisses), auch Angehörige können so die Spuren dieser Personen verlieren und lange in Ungewissheit über den Aufenthaltsort der Betroffenen verbleiben (hier, S. 14 f.). Damit sind beide Angriffsrichtungen des Verschwindenlassens, einmal gegen den Betroffenen selbst und einmal gegen das familiäre und soziale Umfeld, vorhanden (dazu hier, S. 96, 99 f.). Der Ausschuss fordert die Vertragsstaaten auf, derartige Praktiken zu unterlassen und „ohne Ausnahme und ungeachtet des Ortes oder der Dauer der Freiheitsentziehung aktuelle amtliche Register und Akten über alle Migrant*innen [zu] führen“ (hier, S. 8, 16).

Diese Forderungen mit Blick auf die Vorbeugung von Praktiken des Verschwindenlassens bei kollektiven Rückweisungen lässt die EU-Kommission bei ihrer Mitteilung außer Acht. Im Gegenteil, indem sie die Ausnahmeregelung des Art. 33 Abs. 2 GVK bei „Massenzuströmen“ anwenden will und gleichzeitig hervorhebt, es sei „Sache der Mitgliedstaaten, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen und geeignete Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen“ (hier, S. 7), leistet sie menschenrechtswidrigen Praktiken Vorschub, die Menschen entlang der Migrationsrouten zu Opfern von gewaltsamem Verschwindenlassen machen. Vor diesem Hintergrund (auch mit Blick auf die Regelmäßigkeit, mit der Pushbacks an den EU-Außengrenzen praktiziert werden) lässt sich durchaus diskutieren, ob sich nicht die Frage des Verschwindenlassens im Migrationskontext in der systematischen Erscheinungsform stellt. Wird möglicherweise in Durchführung einer EU-Politik der Abschottung durch gewaltsames Verschwindenlassen in Form einzelner Pushback-Praktiken eine besonders verwundbare Zivilbevölkerung (Migrant*innen) systematisch angegriffen? Dokumente, wie die Mitteilung der EU-Kommission an das Europäische Parlament und des Rates vom 11.12.2024, bei der Migration mit „Bedrohung“, „Kriegsführung“ und „hybriden Angriffen“ in Verbindung gebracht wird, (s. hier, S. 1 ff.) regen diese Frage an.

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