Warum die Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit bedroht
Am 7. November 2024 hat der Bundestag den fraktionsübergreifenden Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ angenommen. Der Bundestag hat die Resolution in einer Zeit beschlossen, in der Antisemitismus in Deutschland zunimmt. Die Bekämpfung von Antisemitismus und der Schutz jüdischer Menschen sind dringend notwendig. Um Antisemitismus zu bekämpfen, fordert die Resolution u.a. sicherzustellen, dass Projekte in Wissenschaft, Kunst und Kultur, die als antisemitisch anzusehen sind, keine staatlichen Förderungen erhalten. Das damit verfolgte Ziel ist nachvollziehbar. Aus vergleichbaren Gründen wird versucht, die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung von staatlicher Förderung auszuschließen. Im Kontext der Resolution ist die Ausgangslage allerdings komplizierter. Um die Frage, wo legitime Palästinasolidarität und Israelkritik aufhört und wo Antisemitismus anfängt, wird gesellschaftlich und politisch gerungen. Das zeigen die Antisemitismusvorwürfe nach der Dankesrede der Regisseure des Films No Other Land bei der letzten Berlinale.
Die Resolution droht, den Zugang zu staatlichen Ressourcen für Akteur:innen aus Zivilgesellschaft, Kunst und Wissenschaft an eine vereinfachende Antwort auf diese umstrittene Frage zu binden. Obwohl die Resolution rechtlich unverbindlich ist, können von ihr mittelbar-faktische Grundrechtseingriffe in die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ausgehen. Das zeigen Verwaltungsentscheidungen aus vergleichbaren Kontexten. Zu Recht forderten daher zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteur:innen in einem offenen Brief eine alternative Resolution. Diese hätte berücksichtigt, dass Antisemitismus nur wirksam im Rahmen eines Rechtsstaates begegnet werden kann, der Grundrechte schützt und Räume für Verhandlung und kollektive Meinungsbildung öffnet.
Was ist eine „Resolution“?
Das Grundgesetz und die Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) kennen den Begriff der „Resolution“ nicht. Staatsorganisationsrechtlich handelt es sich um Anträge gem. § 75 Abs. 1 lit. c) GO-BT (im Folgenden verwenden wir dennoch den medial verbreiteten Begriff der Resolution). Verabschiedete Anträge sind als „schlichte Parlamentsbeschlüsse“ ein Instrument politischer Artikulation. Sie erzeugen keine rechtliche Bindungswirkung. Der Bundestag nimmt durch Resolutionen seine ungeschriebene Kompetenz zur Meinungsbildung und Stellungnahme in politischen Fragen wahr. Gleichzeitig kann sich der Bundestag bei der Verabschiedung von Resolutionen nicht etwa auf die Meinungsfreiheit berufen. Im Gegenteil, die Resolution ist als Akt der öffentlichen Gewalt an verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen. Anders als Gesetze stellen Resolutionen keine Rechts- oder Ermächtigungsgrundlage für staatliche Eingriffe dar. Resolutionen können dennoch mittelbar-faktische Auswirkungen haben und im Einzelfall sogar unmittelbare Grundrechtseingriffe verursachen. Letzteres ergibt sich aus der Möglichkeit stigmatisierender Auswirkungen auf Grundrechtsträger. Mit diesem Argument bejahte der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen die Beschwerdebefugnis einer Individualverfassungsbeschwerde gegen eine BDS-Resolution des Landtags.
Mittelbar-faktische Auswirkungen können sich insbesondere daraus ergeben, dass der Bundestag Länder und Kommunen dazu auffordert, ihrerseits verbindliche Regelungen zur Umsetzung der Resolutionsinhalte zu verabschieden. Überdies beeinflussen Resolutionen die behördliche Praxis und finden Eingang in rechtliche Argumentationslinien. Dies verdeutlichen beispielsweise die Vorträge der Stadt München vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und der Stadt Frankfurt vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt. Beide Städte nehmen für die Rechtfertigung von grundrechtlichen Eingriffen maßgeblich Bezug auf die BDS-Resolution des Bundestags vom 17. Mai 2019. Diese Praxis zeigt: Die herausgehobene Stellung des Bundestags vermittelt dem Inhalt von Resolutionen besondere Legitimität.
Was der Bundestag beschlossen hat
Die Resolution enthält zahlreiche begrüßenswerte Feststellungen und Forderungen, die das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland deutlich machen. Gleichzeitig droht sie, repressiven Maßnahmen Vorschub zu leisten. Insbesondere die folgenden zwei Punkte sind aus grundrechtlicher und rechtsstaatlicher Perspektive bedenklich: Erstens bekräftigt der Bundestag seinen Beschluss, „dass sicherzustellen ist, dass keine Organisationen und Projekte finanziell gefördert werden, die Antisemitismus verbreiten, das Existenzrecht Israels in Frage stellen, die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen.“ Im unmittelbaren Zusammenhang hierzu steht die Forderung, rechtssichere „insbesondere haushälterischen“ Regelungen zu erarbeiten, die sicherstellen sollen, dass im Bereich der Kultur und Medien keine Projekte mit antisemitischen Zielen und Inhalten gefördert werden. Zweitens bekräftigt der Bundestag die BDS-Resolution aus dem Jahr 2019. Nicht Gegenstand des Beitrags, aber rechtsstaatlich ebenfalls bedenklich ist die Forderung, repressive Möglichkeiten zur Bekämpfung von Antisemitismus im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht „konsequent auszuschöpfen.“
Die Forderung, sicherzustellen, dass „keine Organisation und Projekte finanziell gefördert werden, die Antisemitismus verbreiten“ wirft grundrechtliche und praktische Fragen auf. Deshalb gab es bereits erhebliche Kritik aus der Zivilgesellschaft. Vorschläge für ein Verfahren, wie eine solche Prüfung in „haushälterischen Regelungen“ umgesetzt werden könnte, enthält die Resolution nicht.
Inhaltlich legt sich die Resolution darauf fest, die Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) anzuwenden. Die Folgen dieser Festlegung sollen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden; auf dem Verfassungsblog sind zahlreiche lesenswerte Beiträge dazu erschienen, darunter von Ambos et al. (in den Kommentaren Doris Liebscher), Neumann, Majetschak und Cemel sowie von Machona. Die Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition führt nicht notwendig zu überschießenden Grundrechtsbeschränkungen. Die Befürchtung ihrer missbräuchlichen Anwendung ist dennoch begründet. Zumal in einem Kontext, in dem bereits Debatten darüber geführt werden, ob die Verwendung von Begriffen wie Nakba, Apartheid, Ghettos, Kolonialismus oder Genozid in Wissenschaft, Kunst und Kultur als per se antisemitisch zu bewerten sind.
Förderaus für die Berlinale?
Als Beispiel für einen „Antisemitismusskandal in Kunst, Kultur und Medien“ nennt die Resolution die Antisemitismusvorwürfe im Kontext der diesjährigen Berlinale. Dieses Beispiel verdeutlicht die weitreichenden Auswirkungen, die eine konsequente Umsetzung der Resolution haben könnte. Die Berlinale erhält einen erheblichen Teil ihrer Mittel aus dem Bundeshaushalt. Nach der Resolution könnte sich die Berlinale für die Zukunft disqualifizieren, Fördergelder des Bundes zu erhalten, weil der israelische Regisseur Yuval Abraham und sein palästinensischer Kollege Basel Adra von Apartheid bzw. Genozid auf ihrer Bühne sprachen (hierzu aufschlussreich Meron Mendel).
Wie die Resolution zu Grundrechtseingriffen führen kann
Im beschriebenen Beispiel wären die Grundrechte der öffentlichen Kulturinstitution und Künstler:innen betroffen und womöglich auch verletzt. Denn: Grundrechtsdogmatisch ist die Verwaltung auch bei der Vergabe von Leistungen an die Grundrechte gebunden. Die Verwaltung muss die Meinungs- und Kunstfreiheit sowie die verfassungsrechtlichen Gleichheitssätze bei ihrer Entscheidung über Fördermittel, Preise und sonstige Vorteile berücksichtigen. Auch wenn öffentliche Kulturinstitutionen in staatlicher Trägerschaft stehen, unterliegt ihre künstlerische Arbeit dem Schutz der Kunstfreiheit (s. Möllers S. 8). Geförderte Künstler:innen können sich ebenfalls auf die Kunstfreiheit berufen. Werden Fördermittel versagt, weil Künstler:innen BDS-nahe Positionen vertreten, berührt dies die Grundrechte der Betroffenen. Die ständige Verfassungs- und Verwaltungsrechtsprechung teilt dieses Grundrechtsverständnis. Das Bundesverfassungsgericht hat 2016 klargestellt:
„Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt gilt […] unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird. Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden.“
Der öffentlichen Hand sei es verwehrt, „sich auf die allein dem Einzelnen zustehende Berechtigung zu gewillkürter Freiheit zu berufen.“
Die Grundrechtsbindung begründet keinen Anspruch auf Grundrechtssubventionierung. Eröffnet der Staat den Zugang zu staatlichen Leistungen wie Schwimmbädern, Wochenmärkten oder Chören, sind seine Auswahlkriterien jedoch an Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG zu messen. Genauso wie das Anknüpfen an Geschlecht oder Herkunft, begründet auch das Anknüpfen an politische Anschauungen für die Vergabe von Fördermitteln eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung.
In gleicher Weise können auch Freiheitsgrundrechte betroffen sein. Für die Annahme eines Grundrechtseingriffs ist unerheblich, ob eine erteilte Leistungszusage aufgehoben, durch eine Nebenbestimmung ein bestimmtes, grundrechtlich relevantes Verhalten verlangt wird (Bekenntnisabgabe), oder die Leistung von vornherein verwehrt wird. Ausreichend ist, dass sich die staatliche Maßnahme faktisch-mittelbar auf die Ausübung von Grundrechten auswirkt. In einer Entscheidung, in der es um den Ausschluss von Mobilitätsförderung ging, entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass nicht nur das fehlende Distanzierungsbekenntnis von Scientology, sondern erst recht die Versagung der Förderung aufgrund der Glaubenszugehörigkeit in die Glaubensfreiheit eingreift.
Ähnlich urteilte das Verwaltungsgericht Frankfurt, als die Nutzung der Stadthalle wegen eines Antisemitismusvorwurfs untersagt wurde. Dabei ging es davon aus, dass die Versagung das Grundrecht auf Kunstfreiheit gem. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG beeinträchtige (und verletze). Die Entscheidung betraf unmittelbar eine Vertragskündigung. Hierauf und auf den Vertrauensschutz kam es dem Verwaltungsgericht in seiner Begründung jedoch nicht an. Vielmehr stellt es für den Eingriff darauf ab, dass das Konzert wegen kunstimmanenten Kriterien „faktisch unterbunden“ worden wäre. Ähnlich ist auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 2022 zu lesen, die eine BDS-bezogene Widmungsbeschränkung für Raumvergaben betrifft. Diese Widmungsbeschränkung stelle einen unzulässigen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 dar. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte, was der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgeführt hatte:
„Der Schutzbereich des Grundrechts ist nicht erst dann berührt, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten als solches eingeschränkt oder verboten wird, sondern schon dann, wenn daran negative Konsequenzen geknüpft werden.“
Welche Anforderungen für Grundrechtseingriffe gelten
Soweit von der Resolution selbst oder von Maßnahmen zu ihrer Umsetzung Grundrechtsbeeinträchtigungen ausgehen, müssen diese gerechtfertigt sein. Hier gelten die allgemeinen Rechtfertigungsanforderungen für Eingriffe in die Kunst-, Meinungs-, und Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 GG sowie für den besonderen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs 3 GG.
Jedenfalls wenn in die Meinungsfreiheit eingegriffen wird, sind dabei folgende Anforderungen zu berücksichtigen: Zum einen gilt der Vorbehalt des Gesetzes, wobei Grundrechtseingriffe nur auf Grundlage eines Gesetzes erfolgen dürfen. Zum anderen müssen beschränkende Gesetze „allgemeine“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein. Darunter sind Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten und sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Diesen Anforderungen wird es jedenfalls nicht gerecht, die Nutzung von Stadthallen aufgrund von BDS-Resolutionen auszuschließen. So hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass selbst bei unterstellter Rechtssatzqualität BDS-Beschlüsse nicht der Anforderung eines „allgemeinen Gesetzes“ gem. Art. 5 Abs. 2 GG genügten.
Zudem müssen im Bereich der Kunst- und Meinungsfreiheit Aussagen grundrechtsschonend ausgelegt werden. Im Hinblick auf das Berlinale-Beispiel würde dies bedeuten, dass die Verwendung von Begriffen wie Apartheid und Genozid gerade nicht pauschal als antisemitisch zu deuten sind.
Warum die Bekräftigung des BDS-Beschlusses irritiert
Aus einem rechtsstaatlichen Blickwinkel irritiert überdies die Bekräftigung des BDS-Beschlusses von 2019. Maßnahmen zur Umsetzung des Beschlusses wurden durch das BVerwG unmissverständlich als verfassungswidrig befunden. Auch ein von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zum selben Ergebnis. Dies überzeugt auch vor dem Hintergrund des EGMR-Urteils Baldassi/Frankreich, in dem das Gericht die Meinungsfreiheit von BDS-Aktivist:innen im strafrechtlichen Kontext gestärkt hat. Diese Entscheidung müssen auch deutsche Gerichte berücksichtigen.
Es ist davon auszugehen, dass die Abgeordneten diese rechtlichen Beurteilungen kannten und sich entschieden haben, sie zu ignorieren. Dies weckt Zweifel an dem Rechtsstaatsverständnis der Beteiligten.
Wen die Resolution treffen wird
Selbst wenn die Resolution die Ereignisse bei der Berlinale als „Antisemitismusskandal“ bezeichnet, ist es doch unwahrscheinlich, dass sie sich auf deren Förderung auswirkt. Hierfür scheint die Berlinale als bedeutendstes deutsches Filmfestival zu etabliert. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Berlinale, wie weit die Konsequenzen der Resolution reichen können.
Die praktischen Folgen der Resolution sind auch vor dem Hintergrund zunehmender Grundrechtsbeeinträchtigungen bei palästinasolidarischen Äußerungen und Protestformen zu bewerten. Hierzu zählt die sog. Fördermittel-Affäre in deren Kontext die Hausleitung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung prüfte kritischen Wissenschaftler:innen Fördermittel zu entziehen. Dabei ist es zwar noch nicht zu finalen behördlichen Maßnahmen gekommen. Dennoch zeigt die Affäre, dass die geforderten Maßnahmen der Resolution nicht einmal umgesetzt werden müssen, um sich negativ auf die Ausübung von Grundrechten auszuwirken. Das Vorgehen des Ministeriums dürfte Wissenschaftler:innen erheblich eingeschüchtert haben. Auch die jetzt verabschiedete Resolution kann solche Bedenken in der Wissenschaft auslösen – ein Zustand, der mit der Freiheit der Wissenschaft von politischen und staatlichen Einflussnahmen nicht vereinbar ist.
Im Ergebnis wird die formelhafte Bekräftigung von Kunst-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Resolution ihrem tatsächlichen Inhalt nicht gerecht. Vielmehr bleibt der Eindruck, dass grundrechtliche Maßstäbe, die auch und gerade für die Bekämpfung von Antisemitismus essenziell sind, bei Erarbeitung der Resolution nur unzureichend berücksichtigt wurden. Dabei hätte es konstruktive Alternativen gegeben. Die alternativen Formulierungsvorschläge eines Kreises von Wissenschaftler:innen um Ralf Michaels, Jerzy Montag und Armin Nassehi zeigen, dass eine Resolution den Schutz jüdischen Lebens einfordern und Spannungsfelder zugleich grundrechtskompatibel auflösen kann.