Warum es den EGMR braucht, um Versammlungsfreiheit auch in Deutschland zu verstehen
Das Verbot sogenannter Schutzwaffen wurde 1985 mit § 17a Abs. 1 VersG Bund (nachfolgend VersG) in das Versammlungsgesetz des Bundes von 1953 eingeführt. Seitdem „ist verboten, bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel, Aufzügen oder sonstigen öffentlichen Veranstaltungen unter freiem Himmel oder auf dem Weg dorthin Schutzwaffen oder Gegenstände, die als Schutzwaffen geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren, mit sich zu führen.“ Wer dies dennoch tut, kann nach § 27 Abs. 2 VersG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden. Wer sich bei einer Demonstration gegen eine Verletzung schützt, ist also Straftäter*in.
Das Verbot eines Körperschutzes bei Versammlungen ist seit jeher umstritten. Dennoch sahen die deutschen Gerichte auch im jüngst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschiedenen Fall Russ ./. Deutschland keinen Anlass zur Korrektur – obwohl Art. 8 GG wie auch Art. 11 EMRK den Schutz von Leben und Gesundheit der Versammlungsteilnehmer*innen garantieren und polizeiliche Maßnahmen, etwa in Berlin, teils auf deren gezielte Verletzung hinauslaufen. Es brauchte nach zehn Jahren Verfahrensdauer erst den EGMR, um hier zumindest eine menschenrechtliche Schranke einzuziehen, nachdem das BVerfG die Sache ohne ein Wort der Begründung nicht zur Entscheidung annahm.
Versammlung als Gefahr
Trotz wohlschimmernder Namen und euphemistischer Begriffe wie „Versammlungsfreiheitsgesetz“, dient das deutsche Versammlungsrecht bis heute1) in erster Linie nicht der Gewährleistung eines Grund- und Menschenrechts auf gemeinsame öffentliche Meinungskundgabe. Im Zentrum steht vielmehr noch immer die Abwehr von „Gefahren“, die aus Sicht der Polizei und Versammlungsbehörden von Versammlungen ausgehen. Entsprechend sehen die Versammlungsgesetze des Bundes und der acht Länder mit eigenen Gesetzen (Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) in der Versammlung vor allem ein Sicherheitsrisiko. Sie erscheinen aus behördlicher Perspektive als etwas, das umfassend kontrolliert werden muss – mit Hürden bei der Anmeldung, seitenlangen Auflagenbescheiden für die Durchführung, kleinlichen Verboten und Auflagen zu Parolen, Transparenten, der Länge und Breite, zu Transparentstangen, Demonstrationsrouten, Versammlungsorten oder auch der Distanz zu etwaigen Gegendemonstrationen. In Berlin wird im Kontext von Versammlungen zum Krieg Israels in Gaza sinnigerweise sogar der Gebrauch der arabischen Sprache unterbunden.
Hinzu kommen gesetzliche Regelungen zu den mitgeführten Gegenständen, die eine jederzeitige polizeiliche Identifizierung erschweren könnten (Vermummungsverbot), als gehöre es zum Wesen der Versammlungsfreiheit, sein Gesicht in die ubiquitären Polizeikameras halten zu müssen. Verboten ist – und darum ging es im zu entscheidenden Fall – auch der Eigenschutz, insbesondere gegen Angriffe durch die Polizei: Wer Helm oder Schutzbrille oder eben hier ein einfaches Plastikvisier trägt, riskiert eine Strafanzeige wegen Verstoß gegen das „Schutzwaffenverbot“. Ohne einen solchen Schutz können indes Prügelorgien der vollausgerüsteten Polizei wie am Nakba-Tag 2025 in Berlin neben Körperverletzungen bei Demonstrierenden auch eine abschreckende und traumatisierende Wirkung entfalten. Wer das am eigenen Körper erfahren hat, wird so schnell nicht wieder auf die Straße gehen.
Schutz“waffen“, Schutzgegenstände und „Gewaltbereitschaft“
Waffen im Sinne des § 1 WaffG sind Schusswaffen oder ihnen gleichgestellte Gegenstände und tragbare Gegenstände, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, die Angriffs- oder Abwehrfähigkeit von Menschen zu beseitigen oder herabzusetzen, insbesondere Hieb- und Stoßwaffen. Der Begriff der „Schutzwaffe“ hingegen findet sich weder hier noch ist er im Versammlungsrecht legaldefiniert. Waffen gehören zur Standardausrüstung der Polizei, je nach Bundesland in unterschiedlichem Umfang. Dazu zählen insbesondere Schuss- und Hiebwaffen sowie Reizstoffe und Distanzelektroimpulsgeräte (Taser). Letztgenannte werden in manchen Bundesländern als sogenannte „Hilfsmittel der körperlichen Gewalt“ statt Waffen eingeordnet. Während Waffen auf aktives Angreifen und Verletzten abzielen, geht es bei Schutzgegenständen gerade um passive Abwehr. Sie dennoch als Waffen zu bezeichnen, verfehlt bereits deren Zweckbestimmung und lässt ihre Verwendung als Unrecht erscheinen.
In der Literatur wird das Verbot von „Schutzwaffen“ häufig mit einer hierdurch hervorgerufenen aber empirisch nie belegten gesteigerten Gewaltbereitschaft der Betroffenen begründet – auch dann, wenn sie die Gegenstände lediglich mitführen (zur Diskussion in Hessen StGH 6.5.2025 Rn. 230 ff.; eine mit Blick auf Art. 14 HessVerf durchaus diskutable Entscheidung). Das HVersFG (sicher kein liberaler Gegenentwurf), vertritt beispielsweise einen anderen Ansatz, wenn nach § 18 Abs. 1 verboten ist, „bei oder im Zusammenhang mit einer Versammlung unter freiem Himmel Gegenstände mit sich zu führen, die als Schutzausrüstung geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, Vollstreckungsmaßnahmen eines Trägers von Hoheitsbefugnissen abzuwehren“. Hier wird immerhin verbal „abgerüstet“.
Der StGH Hessen führt in diesem Kontext aus:
„Allein aus dem Umstand, dass Menschen Vorsorge dafür treffen wollen, nicht Gewalt ausgesetzt zu werden, lässt sich nicht auf die Absicht einer Unfriedlichkeit gerade dieser Personen schließen. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass es bei Versammlungen zum Einsatz von Gewalt kommen kann, die durch Unfriedlichkeit anderer an der Versammlung teilnehmender Personen oder durch polizeiliche Maßnahmen ausgelöst werden kann. Es besteht insoweit ein Unterschied zum Waffenverbot, welches aggressives Verhalten erschwert.“ (Rn. 240)
In der Entscheidung heißt es weiter:
„Soweit die rechtsanwendende Behörde eine Maßnahme auf die in § 18 HVersFG bestimmten Verbote stützen will, muss sie stets die Motivation der Adressaten prüfen. So ist sichergestellt, dass beispielsweise berechtigte Schutzmaßnahmen von an der Versammlung teilnehmenden Personen vor Übergriffen privater Dritter nicht gegen das Schutzausrüstungsverbot und das Tragen einer Schutzmaske aus rein gesundheitlichen Gründen oder eine Gesichtsverdeckung aus allein religiösen Gründen nicht gegen das Vermummungsverbot verstoßen“ (Rn. 248). „Das Schutzausrüstungs- und Vermummungsverbot bleibt sanktionslos, wenn im Einzelfall keine entsprechende Anordnung durch die Behörde getroffen wird. Denn § 25 Abs. 2 Nr. 5 und Nr. 6 HVersFG (Straftaten) sowie § 26 Abs. 1 Nr. 17 und Nr. 18 HVersFG (Ordnungswidrigkeiten) setzen jeweils eine konkretisierende behördliche Anordnung voraus.“ (Rn. 252)
Drei der elf Richter*innen widersprachen dieser Bewertung in einem Sondervotum. Sie lehnten die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung der Verbotsnormen ab:
„Die Mehrheitsbegründung erkennt zwar verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Verbote an, hält aber eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften für möglich. Dies kann nicht überzeugen. Weder das Verbot des Mitführens von Schutzausrüstung noch das Vermummungsverbot lassen sich durch hinreichend erhebliche Gefahren für Güter von Verfassungsrang rechtfertigen.“ (a.a.O. S. 115 ff.)
Was sagt nun der EGMR?
Anlässlich der Eröffnung des EZB-Neubaus 2015 in Frankfurt demonstrierten am 18. März 2015 rund 17.000 Menschen. Der Kläger beteiligte sich an der angemeldeten, friedlich ausgerichteten Versammlung „bunt, laut – aber friedlich“. Währenddessen trug er zeitweise ein durchsichtiges Visier mit der kleinen Aufschrift „Smash Capitalism“ vor dem Gesicht. Das Amtsgericht Frankfurt wertete dies als „Schutzwaffe“ im Sinne von §§ 27 Abs. 2, 17a VersG und verhängte eine Geldstrafe von 400 Euro (40 Tagessätze à 10 Euro). Landgericht und Oberlandesgericht bestätigten das Urteil. Die Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg; das Bundesverfassungsgericht nahm sie ohne Begründung nicht zur Entscheidung an (Beschl. v. 18.03.2020, Az. 2 BvR 1796/19).
Das Amtsgericht begründete die Eigenschaft als „Schutzwaffe“ iSv § 17a Abs. 1 iVm § 27 Abs. 2 Nr. 1 VersG (das HVersFG trat erst später in Kraft) damit, dass das Plastikvisier keinen anderen Grund bei dieser Demonstration gehabt haben könne, als sich gegen Pfefferspray oder andere Gase oder Flüssigkeiten zu schützen und dadurch – trotz möglicher polizeilicher Maßnahmen – länger an der Versammlung teilnehmen zu können. Hieran ändere auch die Aufschrift Smash Capitalism nichts, da diese auch am Hinterkopf sichtbar gewesen und in diesem Falle nicht als Schutzwaffe einzuordnen gewesen sei. (EGMR Rn. 10 f.). Nach den Ausführungen des EGMR folgte das Landgericht dieser Auslegung mit der wenig plausiblen Erläuterung, die Aufschrift Smash Capitalism belege die Verwendungsabsicht (ebd. Rn 13). Auch ein Verbotsirrtum habe nicht vorgelegen, weil der Kläger seit langem als Aktivist in der Demonstrationsszene tätig sei und zudem hätte die Polizeibeamt*innen vor Ort fragen können, ob das Visier ein verbotener Gegenstand sei (ebd. Rn. 14).
Der Kläger zog vor den EGMR. Die Straßburger Richter*innen sahen in seiner Verurteilung einen Verstoß gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK). Die deutschen Gerichte hätten nicht dargelegt, warum das Tragen eines behelfsmäßigen Visiers eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle, meint der EGMR. Die Bundesregierung trug beim EGMR vor, die Demonstration am 18. März 2015 sei gewalttätig gewesen und das Visier habe den Willen des Betroffenen zum Ausdruck gebracht, sich hieran zu beteiligen oder sich gegen Zwangsmaßhamen der Polizei zu schützen. Das Visier sei daher unabhängig von seinem Design geeignet gewesen, Aggressionen auf Seiten der Versammlungsteilnehmer*innen zu schüren. Zudem sei der Kläger nicht in seiner Versammlungsfreiheit beschränkt worden, weil die Verurteilung erst im Anschluss erfolgt sei (a.a.O. Rn. 31); ein wirklich beeindruckendes Argument angesichts der Abschreckungswirkung des Versammlungsstrafrechts.
Der EGMR verneint einen gezielten Eingriff in die Meinungsfreiheit des Klägers aus Art. 10 EMRK. Mit Blick auf den Schutz der Versammlungsfreiheit aus Art. 11 EMRK stellt das Gericht einleitend – und im Einklang mit der deutschen Rechtslage – fest, dass Gewalttätigkeiten oder andere Straftaten kleiner Gruppen oder Einzelner in einer Versammlung den Schutz Dritter aus Art. 11 nicht beeinträchtigen könnten oder dem Veranstalter eine solche Intention unterstellt werden könne (Rn. 36). Die Beweislast dafür liege bei den Behörden und sei hier mit Blick auf die Versammlung, an der der Kläger teilnahm, nicht erbracht worden (Rn. 37 ff.). Es habe mithin ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 EMRK vorgelegen. Zwar enthalte das VersG keine Legaldefinition des Begriffs Schutzwaffe, diese lasse sich jedoch aus den öffentlich zugänglichen Gesetzgebungsgründen entnehmen (Rn. 45). Das Verbot sei grundsätzlich mit den Anforderungen aus Art. 11 Abs. 2 EMRK vereinbar (Rn. 48) und es könne auch die Notwendigkeit des gesetzlichen Verbotes in einer demokratischen Gesellschaft nicht verneint werden (Rn. 52). Hier liegt das Gericht also im Kern auf der Linie der veralteten VersG des Bundes.
Die deutschen Gerichte hätten jedoch nicht beachtet, so der EGMR, ob das Visier des Klägers tatsächlich die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt habe und hätten auch nicht begründet, warum dieses zum Schüren von Aggressionen geeignet gewesen sei oder der Kläger offenkundig gewillt gewesen sei, Gewalt anzuwenden. Während eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit für bestimmte Gegenstände wie Schutzschilde, Stahlhelme oder Gasmasken durchaus abstrakt bejaht werden könne, sei das Visier des Klägers zwar aus relativ hartem Material gewesen, es sei aber dünner und flexibler als Plexiglas gewesen (Rn. 53). Der EGMR beanstandet auch, dass die deutschen Gerichte nicht geprüft hätten, ob nicht die Voraussetzungen aus § 17a Abs. 3 VersG vorgelegen hätten (Rn. 54). Zudem habe die zuständige Behörde auch nicht gemäß § 17a Abs. 4 VersG das Abnehmen des Visiers angeordnet (Rn. 55).
Grundsätzlich führt das Gericht weiter aus, dass friedliche Versammlungen nicht unter der Drohung von Sanktionen stehen dürften. Strafgerichte müssten zudem im Kontext von Versammlungsstraftaten Art. 11 beachten und begründen, warum strafrechtliche Sanktionen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig seien. Dennoch hätten die deutschen Gerichte das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht hinreichend gegen die Anforderungen der Gefahrenabwehr abgewogen und die spezifischen Umstände der betroffenen Versammlung hinreichend beachtet:
„In the particular circumstances of the case, the Court considers that the domestic courts failed to explain why the carrying of the simple visor constituted a threat to public safety which rendered the applicant’s criminal conviction necessary in a democratic society.“ (Rn. 56)
Damit hatte die Klage vor dem EGMR Erfolg.
Fazit
Das Urteil ist eine deutliche Rüge für die Verwaltungsbehörden und Strafgerichtsbarkeit mit Blick auf die durch das Grundgesetz und die EMRK geschützte Versammlungsfreiheit. Der nicht einmal begründete Nichtannahmebeschluss des BVerfG stellt diesem ebenfalls kein gutes Zeugnis aus. Der EGMR setzt klare Maßstäbe, die Versammlungsbehörden, Polizei und Gerichte zukünftig zu berücksichtigen haben (BVerfG 111, 307 – Görgülü). Das betrifft das oft schematische Vorgehen gegen jedweden Schutzgegenstand, sei es durch präventive Verbote oder strafrechtliche Sanktionen. Hier arbeitet der EGMR die Anforderungen der EMRK an den Schutz der Versammlungsfreiheit deutlich heraus, welche in der versammlungsrechtlichen Praxis häufig unbeachtet bleiben. Dies kann so nach dieser Entscheidung nicht länger aufrechterhalten werden. Schade nur, dass Entscheidungen des EGMR nicht zur Pflichtlektüre in polizeilichen Einsatzhundertschaften gehören. Aber auch die versammlungsrechtliche Literatur sollte den Blick Richtung EMRK sicher schärfen.