Warum die Auslieferung von Maja T. verfassungsrechtswidrig war und was jetzt getan werden sollte
Als die Auslieferung von Maja T. nach Ungarn im Juni 2024 bekannt wurde, äußerten viele Fachleute Zweifel an der Rechtmäßigkeit im Einzelfall und Kritik am Auslieferungsverfahren im Allgemeinen. Darf es sein, dass eine Person, die Gegenstand eines Auslieferungsersuchens an Deutschland ist, im Rechtsstaat der Bundesrepublik kein Mittel hat, um juristisch gegen die gerichtliche Zulässigkeitsentscheidung vorzugehen? Kann es sein, dass nicht nur vor den Fachgerichten kein Rechtsmittel besteht, sondern dass auch der allein durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mögliche – und in diesem Fall auch gewährte – einstweilige Rechtsschutz vereitelt wird, indem eilig Tatsachen geschaffen werden?
Das BVerfG hat nun im Fall von Maja T. geurteilt. Zwar konnte es diese Fragen nicht direkt beantworten, doch mit der Rüge an das Kammergericht (KG) stärkt es die Position der verfolgten Person im Auslieferungsverfahren. Auf Grundlage des hier einschlägigen Unionsrecht, maßgeblich Art. 4 GRCh, misst es die Entscheidung des KG an der Absolutheit des Folterverbots und hängt damit die Messlatte für die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung hoch – zu hoch für das vom KG großzügig gewährte Vertrauen in windige Zusicherungen der ungarischen Seite und die darauf beruhende abstrakte Prüfung der Haftbedingungen.
Hätte Maja T. bereits gegen die Zulässigkeitsentscheidung den seit langem geforderten und kurz nach der Auslieferung beinahe geschaffenen Rechtsbehelf einlegen können, hätte das KG seine Zulässigkeitsentscheidung vor der eiligen Vollstreckung erneut überprüfen müssen. Dass es dann die vom BVerfG gerügten Fehler nicht begangen hätte, ist zumindest nicht ausgeschlossen.
Rechtshilfe zwischen Staaten oder Schicksal eines Individuums?
Ob und unter welchen Umständen eine Person einem anderen Staat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Strafe übergeben wird, entscheidet sich in einem Verfahren, dessen Protagonist nicht etwa die verfolgte Person ist, sondern die beteiligten Staaten. Deutlich wird das nicht nur in der Terminologie dieses Rechtsgebiets und der einschlägigen Regelungswerke: „Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen“ (IRG) und „Rahmenbeschluss (2002/584/JI) des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“ (RbEuHb). Auch in der Sache selbst spielen Individualrechte mit engen Ausnahmen (etwa bei politischer Verfolgung oder drohender Todesstrafe vgl. §§ 6 ff. IRG) keine zentrale eigenständige Rolle, sondern kommen als Teil des staatlich determinierten „ordre public“ ins Spiel (vgl. § 73 S. 1 IRG, Art. 1 Abs. 3 RbEuHb i. V. m. Art. 6 EUV). Der Maßstab ist damit die staatliche Ordnung, innerhalb derer das Individuum auf den Schutz seiner Rechte vertrauen muss.
Dass eine betroffene Person im Auslieferungsverfahren kein Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung hat, mag auf den ersten Blick folgerichtig erscheinen. Schließlich geht es um den Antrag eines Staates an einen anderen Staat. Beide Staaten sind im gesamten Verfahren selbstverständlich vollumfänglich dem innerstaatlichen Recht und völkerrechtlichen Abkommen, etwa der GRCh und der EMRK, verpflichtet. Und doch stellt das BVerfG immer wieder Grundrechtsverstöße im Auslieferungsverfahren fest (vgl. etwa hier oder hier). Gerade im Auslieferungsrecht sollte das wenig verwundern – einem Rechtsgebiet, wo starke Grundrechtseingriffe auf (außen-)politische Erwägungen treffen und neben dem innerstaatlichen Recht auch an Unionsrecht oder zwischenstaatlichen Abkommen zu messen sind. Umso mehr muss es da überraschen, dass, anders als in anderen Rechtsgebieten, der Mehrwert eines fachgerichtlichen Rechtsschutzes nicht in die Gesetzgebung durchgedrungen ist: Eine Frage durch mehrere Instanzen tragen zu können, schwächt nicht die Bedeutung einer gerichtlichen Entscheidung, sondern stärkt sie gerade, indem sie zur fach- und verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung, zu Einheit und Klarheit beiträgt. Die seit langem artikulierte Forderung nach einer entsprechenden Reform mündete im September 2024 in einen Referentenentwurf des BMJ zur Neuregelung des Rechts der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (IRG-RefE). Geplant ist darin unter anderem ein neues Rechtsmittel: § 161 IRG-RefE räumt der verfolgten Person die Möglichkeit ein, gegen die Zulässigkeitsentscheidung die erneute Entscheidung des Oberlandesgerichts zu beantragen – mit einer einwöchigen Frist ab Bekanntmachung der Entscheidung und mit aufschiebender Wirkung.
Doppelt geprüft hält besser?
Das Gedankenspiel liegt nahe: Hätte Maja T. sich bereits auf § 161 IRG-RefE berufen können, dann hätten die Einlegungsfrist und die Suspensivwirkung des Antrags jedenfalls die bemerkenswerte Schnelligkeit der Überstellung ausgeschlossen. Das Gericht hätte sich in der Sache erneut und ohne den selbst gewählten enormen zeitlichen Druck mit der Frage der Zulässigkeit der Auslieferung befassen müssen. Im Vertrauen auf die grundsätzliche Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien durch die deutsche Justiz wäre zu hoffen, dass das KG in der Rechtsmittelinstanz die Zulässigkeit zutreffend beurteilt hätte: anhand der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) aufgestellten Kriterien und unter Berücksichtigung des Vortrags der verfolgten Person. Dass hierin der entscheidende Unterschied gelegen hätte, hat das BVerfG im Urteil vom 24. Januar 2025 (2 BvR 1103/24) deutlich gemacht.
Informiertes statt blindes Vertrauen
Die einleitenden Feststellungen des BVerfG zum fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnis verdeutlichen die prekäre Lage der verfolgten Person: Der durch die Überstellung bewirkte tiefgreifende Grundrechtseingriff wirke in Form der andauernden Haft fort. Eine vorherige Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde sei „aufgrund der konkreten zeitlichen Abläufe des Überstellungsverfahrens“ vor Erledigung nicht möglich gewesen. Es komme hier „nicht darauf an, ob aus dem Grundsatz der Subsidiarität ein Gebot folge, die geplante Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Vorfeld anzukündigen, um auf einen Aufschub der Durchführung der Überstellung hinzuwirken“ (Rn. 59).
Für zulässig und „offensichtlich begründet“ (Rn. 62) hält das BVerfG die Beschwerde, soweit sich Maja T. auf Art. 4 GRCh beruft, wonach „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ verboten sind. An diesem Maßstab sei das „vollständig unionsrechtlich determiniert(e)“ Europäische Haftbefehlsverfahren grundsätzlich zu messen (Rn. 63).
Das BVerfG verweist auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH (v.a. EuGH, Aranyosi und Căldăraru, 05.04.2016, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198). Dieser hat wiederholt festgestellt, dass ein um Auslieferung ersuchter Staat zwar grundsätzlich unterstellen muss, dass der ersuchende Staat die GRCh einhält. Dieses grundsätzliche Vertrauen kann aber unter „außergewöhnlichen Umständen“ beschränkt sein – etwa dann, wenn die Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRCh besteht (Rn. 65). Aus der vom EuGH geforderten zweistufigen Prüfung solcher „außerordentlicher Umstände“ leitet das BVerfG „Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts“ ab. Die „Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist“, folge aus Art. 4 GRCh selbst (Rn. 68). Das Gericht müsse im ersten Prüfungsschritt systemische oder allgemeine Mängel belegen und sich dabei „auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen“. Im zweiten Schritt müsse es die konkreten Umstände, die die Gefahr einer Grundrechtsverletzung begründen, gründlich prüfen. Dazu muss es um „die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll“ (Rn. 68).
Den entscheidenden Schluss aus den dargestellten unionsrechtlichen Maßstäben zieht das BVerfG unter Berufung auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Die zusätzlich einzuholenden Informationen seien Voraussetzung, um die Gefahr einer Verletzung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auf ausreichender Tatsachengrundlage zu prüfen. Dabei entbinde auch eine Zusicherung des um Auslieferung ersuchenden Staates das Gericht nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können.
Dieser Maßstab weist auf den logischen Fehler hin, den , das KG im Gewand des gegenseitigen Vertrauens seiner Argumentation zugrunde gelegt hatte: Die Zusicherung eines Staates, hier mit Bezug auf die Haftbedingungen und die Diskriminierungsgefahr einer nicht-binären Person, wird im Regelfall nicht auf dort herrschende „außergewöhnliche Umstände“ hinweisen, die das Vertrauen einschränken könnten. Das blinde Vertrauen auf diese Zusicherung wird somit einer Prüfung entgegenstehen, die zur Entdeckung bzw. zum Nachweis „außerordentlicher Umstände“ führt.
Dieses nur scheinbar stimmige, vom KG zugrunde gelegten Verständnis des gegenseitigen Vertrauens korrigiert das BVerfG, indem es – ohne den unionsrechtlichen Vertrauensgrundsatz in Frage zu stellen – auf dem Weg dorthin eine eigene, informierte Einschätzung des ersuchten Staates verlangt. Nach diesen Maßstäben, sei „(d)as Kammergericht […] seiner aus Art. 4 GRCh fließenden Pflicht zur vollständigen Aufklärung des für die Überstellung erheblichen Sachverhalts nicht in jeder Hinsicht gerecht geworden“. Das KG hatte zwar gewisse Informationen über die Maja T. erwartenden Haftbedingungen angefragt, sich dann aber mit „sehr allgemein gehaltenen Erklärungen der ungarischen Behörden zufriedengegeben, obwohl der ausführliche und substantiierte Vortrag der beschwerdeführenden Person und insbesondere die Verweise auf Berichte von NGOs und ehemals in ungarischen Justizvollzugsanstalten inhaftierten Personen eine weitere Aufklärung geboten erscheinen ließen“ (Rn. 71). Mangelhaft sei daher zum einen die Aufklärung der Haftumstände gewesen, da dem KG „aufgrund des ausführlichen Vortrags der beschwerdeführenden Person unter Verweis auf fachgerichtliche Rechtsprechung aus Deutschland und Italien, eidesstattliche Erklärungen ehemals in ungarischen Justizvollzugsanstalten inhaftierter Personen und Berichte des HHC hinreichende Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel“ vorgelegen haben (Rn. 72 f.). Zum anderen habe das KG anhand der wenig spezifischen und teilweise widersprüchlichen Informationen der ungarischen Behörden „nicht ohne Weiteres davon ausgehen“ dürfen, dass der Schutz von Maja T. als non-binärer Person hinreichend gewährleistet werde. Die Zusicherung habe allgemein auf das Diskriminierungsverbot in der ungarischen Verfassung und auf einen Ethikkodex für den Strafvollzug verwiesen. Konkrete Schutzmaßnahmen seien schon deswegen nicht ableitbar, weil die Geschlechtsidentität der Gefangenen in Ungarn gar nicht erfasst werde. Diese Informationen durfte das KG nicht für ausreichend halten, um eine Diskriminierung in der besonderen Lage von Maja T. tatsächlich auszuschließen (Rn. 79 ff.).
Das nun monierte Rechtsverständnis des KG verpflichtet es nicht, seine Entscheidung auf andere als die von den ungarischen Behörden mitgeteilten Informationen zu stützen und macht damit „außerordentliche Umstände“ praktisch unbelegbar. Die daraus resultierende Gefahr einer Grundrechtsverletzung der verfolgten Person, verschärft sich über diesen Einzelfall hinaus durch den fehlenden fachgerichtlichen Rechtsschutz, der im Übrigen auch die Möglichkeit böte, im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens den EuGH bei etwaigen Unklarheiten über die Anwendung des Unionsrechts – sowohl der GRCh als auch des Vertrauensgrundsatzes – zu konsultieren.
Das KG hatte in seiner Entscheidung zudem argumentiert, die verfolgte Person könne etwaige Verstöße gegen die mittels Zusicherung mitgeteilten Haftbedingungen vor den ungarischen Gerichten geltend machen. Auch dieses Argument entkräftet das BVerfG und erinnert an die Karlsruher wie Luxemburger Rechtsprechung, wonach „die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes nicht ohne Weiteres dazu führt, dass eine Überstellung trotz bestehender Gefahr unmenschlicher Haftbedingungen zulässig wäre“ (Rn. 78). Das BVerfG schließt so auch den argumentativen Bogen der Gegenüberstellung von staatlichen Zusicherungen einerseits und dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung andererseits: Unbeirrt von formalen Scheinargumenten stellt es klar, dass letzteres absolut gelten muss, auch und gerade im Anwendungsbereich des Unionsrechts.
Die Anforderungen an die der Zulässigkeitsentscheidung vorangehende gerichtliche Prüfung sind damit hoch – und doch nicht so hoch, dass damit der Rechtshilfeverkehr in der EU per se in Frage stünde. Von den Mitgliedstaaten wird ein informiertes gegenseitiges Vertrauen verlangt, durch das sie nicht nur ihren zwischenstaatlichen Pflichten gerecht werden, sondern auch ihrer Verantwortung gegenüber den Einzelpersonen, die zwar faktisch, aber nicht rechtlich im Zentrum des Auslieferungsverfahrens stehen. Eine leichte Verschiebung des vor allem mit Blick auf die – ersuchenden und ersuchten – Staaten konzipierten Auslieferungsrechts hin zu einer stärkeren subjektiven Stellung der verfolgten Person ist nicht nur aus grundrechtlicher Perspektive zu begrüßen, sondern auch aus Perspektive des Unionsrechts nur schwer zu beanstanden. Denn zum Unionsrecht gehört nicht nur der RbEuHB, sondern ebenso die GRCh.
…und jetzt?
Das Urteil endet mit der ernüchternden Feststellung: „Die Aufhebung des Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Ausgangsgericht kommen indes nicht mehr in Betracht, da die Überstellung bereits vollzogen worden ist.“ (Rn. 82). Die Bilanz des Falles ist damit durchwachsen: An der Inhaftierung von Maja T. in Ungarn ändert das Urteil unmittelbar nichts. Es kann helfen, politischen Druck aufzubauen, der die Suche nach einer diplomatischen Lösung dieser rechtlichen Pattsituation vorantreibt. So wenig hilfreich die verfassungsrechtliche Mahnung für die gerichtliche Entscheidungspraxis in der Vergangenheit ist, so bedeutend ist sie für Gegenwart und Zukunft: Die Oberlandesgerichte, die mit den Auslieferungen weiterer Personen befasst sind, die angeblich gemeinsam mit Maja T. an den Taten in Budapest beteiligt waren (vgl. etwa hier), werden nicht umhin kommen, sich eng an den vom BVerfG vorgegebenen Prüfauftrag für ihre Zulässigkeitsentscheidungen zu halten. Die Entscheidung aus Karlsruhe hat die erwartete Kritik des rechtsstaatlich bedenklichen Vorgehens der Berliner Justiz mit der erhofften Betonung der Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze der EU und des Grundgesetzes verbunden. Und nicht zuletzt sollten diese judikativen Vorgaben auch als Auftrag in der nächsten Legislaturperiode verstanden werden: In der rechtswissenschaftlichen Nische des Auslieferungsrechts entscheidet sich die Umsetzung unionsrechtlicher Grundsätze maßgeblich über innerstaatliche Verfahrensgarantien. Ein verfahrensrechtliches Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit wäre sowohl für die praktischen Abläufe zwischen ersuchendem und ersuchten Staat, als auch für die Menschenrechte im Auslieferungsverfahren ein Gewinn.